Stadtgeschichte(n) in Bewegung
Neue Perspektiven auf Migration: Ausstellung in der Universitätsbibliothek der TU Chemnitz zeigt vom 20. Oktober bis 28. November 2025 Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Städte Chemnitz und Bremerhaven
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Mit Hilfe des Kalliope-Preises für praxisnahe Migrationsforschung 2023 konnten vier Forschende der Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung der TU Chemnitz das Projekt umsetzen (v. l.): Prof. Dr. Birgit Glorius, Dr. Friederike Enßle-Reinhardt, Stephan Schurig und Hanne Schneider. Fotomontage: Jacob Müller, Fotos: Jacob Müller, privat (3) -
Geschichtsträchtiger Ausstellungsort ist Tor zur Welt: Die Universitätsbibliothek der TU Chemnitz ist im Gebäude der ehemaligen Aktienspinnerei untergebracht. Die wichtige Rolle von Chemnitz während der Industrialisierung wurde nur durch die Baumwollverarbeitung und den Zuzug zahlreicher Arbeitskräfte aus anderen Regionen Deutschlands und Europas möglich. Die Einwohnerzahl stieg von um die 20.000 Einwohnern in den 1830er Jahren auf mehr als 160.000 Einwohner zum Ende des 19. Jahrhunderts. Außerdem wanderten auch Rohstoffe wie Baumwolle oder Güter und Fertigungstechniken im Kontext der Baumwollverarbeitung von anderen Orten nach Chemnitz und wieder zurück. Heute verbindet die Universitätsbibliothek die Stadt durch zahlreiche internationale Studierende und Lehrende mit Orten in anderen Teilen der Welt. Bildquelle: Stadtarchiv Chemnitz -
Auch Bahnhöfe spielen spätestens seit der Industrialisierung eine bedeutende Rolle als Abreise-, Ankunfts und Aufenthaltsorte. Sie bringen Menschen in Bewegung. In jüngster Geschichte wurde der Hauptbahnhof in Chemnitz (im Bild) durch die Landeserstaufnahme für Geflüchtete in den Jahren 2015/16 ein wichtiger Knotenpunkt für Asylsuchende. Viele Menschen haben Chemnitz durchreist und sind weitergezogen; einige Menschen sind geblieben. Insbesondere im Chemnitzer Stadtteil Sonnenberg haben Geflüchtete ein Zuhause gefunden und bringen sich in verschiedenen Initiativen und Vereinen in die Stadtgesellschaft ein. Foto: Jacob Müller -
Wie lokale Migrationsgeschichten entdeckt werden können: Im Rahmen des Projektes entstand der „Werkzeugkoffer Stadtspaziergang“ – ein methodischer Leitfaden, mit dem Interessierte selbst Recherchen für migrationsbezogene Stadtrundgänge in ihrer Kommune durchführen können. Foto: Prof. Dr. Birgit Glorius
Am 20. Oktober 2025 öffnet in der Universitätsbibliothek der Technischen Universität Chemnitz eine Ausstellung, die einlädt, regionale und urbane Geschichte auf ungewöhnliche Art und Weise zu entdecken: „Aufbrüche – Umbrüche: Ein Dialog zwischen Bremerhaven und Chemnitz“ zeigt Gemeinsamkeiten der beiden Städte in ihrer Geschichte, beginnend mit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert. Eines der verbindenden Elemente ist dabei, wie Wirtschaft und lokales Leben von und mit Zugewanderten gestaltet wurden und werden. Die Ausstellung entstand aus einer Kooperation der Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung der TU Chemnitz mit dem Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven und ist bis 28. November 2025 in der Universitätsbibliothek, Straße der Nationen 33, vor dem Eingang zum "IdeenReich" zu sehen. Im Februar 2026 wird sie in Bremerhaven gezeigt.
Lokalgeschichte bewusst als Migrationsgeschichte begreifen
Ost- und westdeutsche Geschichte(n) im Dialog, der neue Perspektiven auf Migration und urbane Transformationsprozesse eröffnet: „Aufbrüche – Umbrüche“ zeigt Verwandtschaften und Unterschiede zwischen Chemnitz, der europäischen Kulturhauptstadt 2025, und der nordwestdeutschen Hafenstadt Bremerhaven. Im preisgekrönten Forschungs- und Transferprojekt des Teams aus Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern der TU Chemnitz entstand die Idee, Lokalgeschichte bewusst als Migrationsgeschichte zu begreifen und diese vor Ort mit Bürgerinnen und Bürgern zusammen zu erkunden. Die entstehenden Perspektiven beschreibt Prof. Dr. Birgit Glorius: „Auf der lokalen Ebene erleben wir Migration sehr konkret und entwickeln zugleich ein Verständnis der Pluralität von Migrationsgeschichte. Der Vergleich lokaler Migrationsereignisse bietet vielseitige Denkanstöße, über die neue Ideen für aktuelles Handeln und zukünftige Entwicklungen abgeleitet werden können.“ Das lässt sich an den letzten markanten Bevölkerungsverlusten für beide Städte deutlich machen, die sich auf ganz unterschiedliche Wanderungsbewegungen zurückführen lassen. Während Chemnitz in den 1990er Jahren vor allem durch die Transformationsjahre nach der politischen Wende Bevölkerung verlor, war es in Bremerhaven der Abzug der U.S. Truppen, die zuvor einen nennenswerten Teil der Stadtbevölkerung stellten. Beide Wanderungsprozesse stehen jedoch im gleichen politischen Kontext – nämlich dem Ende des Kalten Krieges. Die Stadtrundgänge zeigen, wie diese Veränderungen sich in das Stadtbild und in die Erinnerungen der Stadtbewohner eingeprägt haben. Und vertiefende Recherchen zeigten, wie stark die einstigen Bewohner noch mit beiden Städten in Verbindung stehen. So verfolgt ein ehemals in Bremerhaven stationierter G.I. bis heute täglich den Hafenbetrieb über eine in Bremerhaven installierte Webcam.
Aus ersten, partizipativen Stadtrundgängen entstand in Kooperation mit dem Deutschen Auswandererhaus neben der Ausstellung ein Stadtrundgang durch Chemnitz, der Migrationsgeschichte erlebbar macht, sowie ein sogenannter „Werkzeugkoffer“ – ein methodischer Leitfaden, mit dem Interessierte selbst Recherchen für migrationsbezogene Stadtrundgänge in ihrer Kommune durchführen können. Eine der Ausstellung angegliederte Befragung gibt den Besucherinnen und Besuchern weitere Möglichkeiten zur Auseinandersetzung mit der Thematik.
Kalliope-Preis für praxisnahe Migrationsforschung und Kooperation
Für ihre der Ausstellung zu Grunde liegende Forschungsidee erhielten Prof. Dr. Birgit Glorius, Dr. Friederike Enßle-Reinhardt, Stephan Schurig und Dr. Hanne Schneider von der Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung der TU Chemnitz im Dezember 2023 den „Kalliope-Preis für praxisnahe Migrationsforschung“ der Stiftung Deutsches Auswandererhaus. Der Preis ist mit 20.000 Euro dotiert und wird alle drei Jahre für Forschungsprojekte vergeben, die durch einen experimentellen Rahmen auch praktische Erfahrungswerte für die Auseinandersetzung mit dem gesellschaftlich viel diskutierten Thema Migration in Museen und Wissenschaft bieten. Auf die Zusammenarbeit von Forschungsinstitut und Museum blickt Museumspädagogin Astrid Birth zurück: "Der Ideenaustausch zwischen der TU Chemnitz und dem Deutschen Auswandererhaus zeigt, wie wertvoll die Zusammenarbeit von Museen und Universitäten sein kann – ein wichtiges Ziel des Kalliope-Preises für angewandte Migrationsforschung."
Mehr über die Arbeit der Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung: https://www.tu-chemnitz.de/phil/iesg/professuren/geographie/.
Weitere Informationen erteilt Prof. Dr. Birgit Glorius, Telefon 0371 531-33435, E-Mail birgit.glorius@phil.tu-chemnitz.de.
Mario Steinebach
20.10.2025