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Deutschlands Matheschwäche

Bitte mehr Kreativität: Der Chemnitzer Mathematikprofessor Christoph Helmberg fordert neue Wege bei der Vermittlung der Mathematik in der Schule

Man muss dankbar sein, dass die aktuelle Pisa-Studie von vergangener Woche die Schwäche der Mathematikausbildung in Deutschland aufgezeigt hat. Die Ursachen für das Desinteresse der Schüler und die geringe Anzahl an Mathematiklehrern liegen aus meiner Sicht ganz wesentlich in den fehlgeleiteten Ansprüchen an das Schulfach Mathematik. Ursache dafür wiederum ist ein grundsätzliches Missverständnis der Chancen und des Nutzens der Digitalisierung.

Das Problem beginnt im Unterricht. Dort gehen die vermittelten und abgefragten Kompetenzen ständig weiter in Richtung einer monotonen Abarbeitung schematisch gleicher Aufgabentypen und mechanischer Rechenschritte. Immer öfter erzählen unsere Mathematikstudenten, dass ihnen selbst einfache Formeln und Beziehungen nicht mehr erklärt wurden. Das führt dazu, dass die Schüler in diesem Fach kaum mehr die logischen Überlegungen und Argumente erlernen, die für Verständnis und Kreativität erforderlich sind.

Der Fortschritt unserer informationsbasierten Gesellschaft, Wirtschaft und Industrie stützt sich dank der Rechenleistung moderner Computer auf immer komplexere mathematische Modelle, Methoden und Verfahren. Deutschlands Stärke sind weder Rohstoffe noch billige Arbeitskräfte. Seine Wirtschaftskraft zieht es aus der Beherrschung dieser Hochtechnologie, die Gegenstand der MINT-Fächer (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften, Technik) ist. Das Fundament dazu wird in der Schule gelegt.

Was wir brauchen ...

Eine Überarbeitung des Lehrplanes wird unserer Jugend aber nur dann weiterhelfen, wenn sich auch unsere Gesellschaft der eigentlichen Aufgaben des Mathematikunterrichts und der Bedeutung von Zahlen entsinnt. Dies ist aus mehreren Gründen wichtig:

Wir brauchen die Befähigung zu logischem Denken, zu kritischem Hinterfragen und zielgerichtetem Argumentieren. Dass nicht der Stärkere, sondern das bessere Argument recht bekommen sollte, ist Teil unseres sozialen Fundaments und ein ideelles Ziel jeder Demokratie. Die Mathematik ist hier konsequent und geradezu radikal: nur logisch korrekte Argumente werden akzeptiert und es ist unbedeutend, ob sie vom Lehrer oder vom Schüler stammen.

Wir brauchen die Vermittlung eines Werkzeugkastens von Rechen- und Schlusstechniken. Das reine Rechnen prägt derzeit das Bild der Schulmathematik. Die Zahlen und das Rechnen lassen sich jedoch nur dann effektiv anwenden, wenn man die entsprechenden Hintergründe verstanden hat. Das Umstellen mathematischer Ausdrücke und die korrekte Verwendung von Formeln bilden die Basis. Sie sind das mathematische Handwerkszeug, das man beherrschen muss. Ein Werkzeug ist jedoch nie Selbstzweck, sondern dient der Erschaffung von etwas Wichtigerem.

Wir brauchen die Befähigung, für neue Problemstellungen geeignete Antworten oder Lösungswege zu finden, indem Beziehungen und Gemeinsamkeiten etwa zu vertrauten Objekten und Aufgaben erkannt werden. Das Erkennen und Verstehen von Beziehungen und Gemeinsamkeiten ist die Voraussetzung dafür, Voraussagen für neue Situationen treffen zu können. Nur so lassen sich Lösungsmuster, die in einer bekannten Situation erfolgreich waren, sinnvoll auf eine neue anwenden. Programmierer und Nutzer sollten tunlichst wissen, verstehen und auch begründen können, unter welchen Voraussetzungen ein Modell korrekt funktioniert und welche Eigenschaften das Ergebnis zum Ausdruck bringt. Zahlen alleine sind inhaltsleer.

Fataler Glaube an Zahlen

Dennoch dominiert in unserer Gesellschaft der Glaube an Zahlen: Nur was sich in Zahlen ausdrücken lässt, sei objektiv. In der Wirtschaft, in der Politik und sogar in Bildung und Wissenschaft soll immer mehr über Zahlen objektiviert und kontrolliert werden. Dass diese Zahlen nur unter Bezugnahme auf die Modelle sinnvoll interpretiert werden können, wird gerne ignoriert – das Modell gerät in Vergessenheit.

Fatalerweise entwickelt sich die Schulmathematik in ganz ähnlicher Richtung, wie es scheint angetrieben von kurzsichtiger und fehlgeleiteter Sorge um auf Zeugnissen festgehaltene Zahlen: die Noten. Damit die Noten der Kinder gut sind, erwarten Eltern von Lehrern, dass ihre Kinder einen einfach nachzurechnenden Lösungsweg für jeden Aufgabentyp vermittelt bekommen – und beschweren sich, wenn ihre Sprösslinge eigene Ideen entwickeln sollen. In Deutsch und allen Fremdsprachen ist sprachliche Kreativität und Lebendigkeit im Ausdruck erwünscht und notenrelevant; im Schulfach Mathematik können Aufgaben, deren Lösungsweg nicht bereits Schritt für Schritt vorexerziert wurde, vor dem Kadi enden. Statt Lehrer für mangelnde Lernbereitschaft oder -fähigkeit oder gar eigene Erziehungsmängel verantwortlich zu machen, sollten wir sie wieder in ihrer eigentlichen Aufgabe, der Wissensvermittlung, unterstützen!

Mehr und mehr Lehrer geben frustriert den Anspruch auf Verständnis auf: Sie beschränken sich darauf zu überprüfen, ob der vorgeschriebene Weg eingehalten wurde und das Ergebnis stimmt; das ist auch vor dem Richter leichter darzustellen. Immer öfter hört man von Fällen, in denen Schülern ein eigener, korrekter, aber leicht abweichender Lösungsweg von den Lehrern als Fehler angerechnet wird. Die im Grunde sinnvolle länderübergreifende Vereinheitlichung der Abitur-Anforderungen befördert durch abgestimmte Aufgabentypen diese Entwicklung noch.

Wie im Volkswagen-Skandal bestehen unsere Kinder die vorgeschriebenen Tests, aber die ursprünglich gewünschte Qualifikation, nämlich das Verständnis und die Problemlösungskompetenz für neue Aufgabenstellungen, geht zunehmend verloren. Nicht nur das Lernen, vielmehr das Finden und Begründen von Rechenwegen muss das Ziel der Schulmathematik sein. Das Leben fordert immer neue Lösungswege. Unsere Jugend wird besser darauf vorbereitet sein, wenn sie frühzeitig und in sicherer Umgebung mit der Suche nach geeigneten Wegen vertraut gemacht wird. Genau wie im Klettergarten wird dies sehr wohl mit Anstrengung verbunden sein und wir sollten akzeptieren, dass Geschicklichkeit und Wendigkeit von Person zu Person variiert. Dennoch wird das Bezwingen einer gut gesicherten Kletterwand von den meisten als deutlich spannender und befriedigender empfunden als die Rolltreppe.

Zur Person: Prof. Dr. Christoph Helmberg

Christoph Helmberg wurde 1968 in Innsbruck geboren. Er studierte Technische Mathematik an der TU Graz, promovierte 1995 eben dort, habilitierte an der Technischen Universität Berlin und folgte im Jahre 2002 dem Ruf an die Technische Universität in Chemnitz. Er ist Inhaber der Professur Algorithmische und Diskrete Mathematik und derzeit Dekan der Fakultät für Mathematik.

Weitere Informationen erteilt Prof. Dr. Christoph Helmberg, Telefon 0371 531-34122, E-Mail helmberg@mathematik.tu-chemnitz.de

Hinweis: Unter dem Motto "Einspruch - Standpunkte zum Streiten" veröffentlichte die "Freie Presse" in der Ausgabe vom 13. Dezember 2016 diesen Beitrag von Prof. Helmberg. Unter dieser Rubrik sollen auch weiterhin verstärkt kontroverse Meinungen aus Wissenschaft und Gesellschaft öffentlich gemacht werden und die Diskussion anregen. Angehörige der TU Chemnitz, die sich hier auch gern einmal fundiert äußern möchten, sind dazu eingeladen. Kontakt: chefredaktion@freiepresse.de und/oder mario.steinebach@verwaltung.tu-chemnitz.de.

Mario Steinebach
13.12.2016

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