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„Tabakentwöhnung ist jetzt erstmalig als Heilleistung und nicht mehr nur als Prävention anerkannt“

Prof. Dr. Stephan Mühlig setzte sich mit Forschung und Expertise über zehn Jahren dafür ein, dass Tabakentwöhnung als Kassenleistung anerkannt wird – Ein Interview

Im Rahmen einer Einordnung zum Weltnichtrauchertag zum Stand in Sachen „Rauchen in Deutschland“ kam Prof. Dr .Stephan Mühlig, Inhaber der Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie an der Technischen Universität Chemnitz und Leiter der Raucherambulanz Chemnitz zu einem ernüchternden Ergebnis: „Deutschland hinkt im europäischen Vergleich immer noch weit hinterher“. Zwei Jahre zuvor attestierte Mühlig, dass Tabakentwöhnung noch immer ein Stiefkind im deutschen Gesundheitswesen sei. Er weiß es nicht nur aus der Praxis, sondern auch die Zahlen geben ihm Recht.

Demnach gehört Deutschland im europäischen Vergleich zu den Schlusslichtern bei Raucherinnen- und Raucher-Prävention und ist unter den Top 10 der Länder mit den meisten rauchenden Personen. Symbolisch erhielt die Bundesdrogenbeauftragte die rote Laterne für das Schlusslicht der Tabakkontroll-Politik in der EU.

Nun gab es gleich zwei Paukenschläge für den Umgang mit Tabak: So entschied der Bundestag am Freitag, 11. Juni 2021, zum einen eine Erhöhung der Tabaksteuer. Demnach soll von 2022 an eine Packung Zigaretten durchschnittlich zehn Cent mehr kosten. Auch E-Zigaretten und Tabakerhitzer werden stärker besteuert. Darüber hinaus entschieden die Abgeordneten, dass Tabak-Entwöhnung künftig zu den Kassenleistungen zählen soll.

Herr Prof. Mühlig, in kurzer Zeit gab es nun wesentliche Entwicklungen dahin, höhere Hürden für das Rauchen einzuziehen. Wie bewerten Sie das?

Die Erhöhung der Tabaksteuer ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Die Erfahrung der letzten Jahrzehnte und die Daten aus anderen Ländern zeigen allerdings, dass vor allem eine abrupte starke Steuererhöhung sich senkend auf die Raucherquote auswirkt. Kleinschrittige Steuererhöhungen führen demgegenüber häufig nur zu einem kurzfristigen Rückgang der Raucherquote, der nach kurzer Zeit wieder ausgeglichen ist. Das ist wie mit dem schrecklichen Beispiel des Frosches im Topf Wasser, der langsam erhitzt wird. Durch den langsamen und kontinuierlichen Temperaturanstieg gewöhnt sich der Frosch an die Temperatur und bemerkt nicht die Lebensgefahr – bis es zu spät ist. So scheinen sich auch die Raucher an kleine Kostensteigerungen nach und nach zu gewöhnen und werden allein dadurch nicht ausreichend motiviert, mit dem Rauchen aufzuhören. In anderen Ländern, wo eine Tabaksteuererhöhung in einem großen Schritt eingeführt wurde, wurde diese offenbar als finanziell so schmerzhaft erlebt, dass die Raucherquote in der Folge sehr deutlich gesunken ist. Insofern hätten wir uns hier an dieser Stelle ein konsequenteres und herzhafteres Vorgehen der Politik gewünscht.

Kommen wir konkret zum aktuellen Beschluss: Therapeutische Maßnahmen zur Tabakentwöhnung sollen künftig unter die Kassenleistungen fallen. Ein längst überfälliger Schritt?

Absolut! Es ist in unseren Augen ein Skandal, dass ausgerechnet der mit Abstand wichtigste Risikofaktor für zahlreiche schwere Erkrankungen und vorzeitigen Tod in Deutschland gesetzlich als Lifestyle-Problem abgetan und lediglich im Rahmen von Präventionsmaßnahmen angegangen wurde. Das Problem ist, dass durch diese Einordnung eine kostendeckende Suchtbehandlung der Tabakabhängigkeit in Deutschland bislang nicht möglich war und es im Gesundheitswesen keine ausreichenden Steuerungsmechanismen dafür gab, dass dieses wichtige Versorgungsangebot in ausreichendem Umfang und ausreichende Qualität von professionellen Behandlern wie Ärzten und Psychotherapeuten umgesetzt wurde.

Sie haben sich seit über zehn Jahren mit ihrer Expertise in der Suchtforschung, im Rahmen der Raucherambulanz Chemnitz und als Kongresspräsident des Deutschen Suchtkongresses immer wieder sehr deutlich für diesen gesetzlichen Schritt ausgesprochen. Wie empfinden Sie diese Entwicklung nun?

Ja, tatsächlich, wir haben das gerade nachgerechnet. Ich kämpfe zusammen mit Kollegen aus den wissenschaftlichen Fachgesellschaften jetzt seit genau zehn Jahren dafür, dass die Tabakentwöhnung endlich als heilkundliche Kassenleistung anerkannt wird. Diese ganze Initiative ist 2011 entstanden, als ich auf Einladung der Pressestelle der TU Chemnitz an einer Podiumsdiskussion mit Vertretern der Krankenkasse und juristischen Vertretern zu dieser Thematik gesprochen hatte. Im Anschluss daran hat sich eine wichtige Studie zusammen mit der AOK PLUS in Sachsen und Thüringen verwirklichen lassen, die ATEMM-Studie. Später haben wir zu dieser Problematik eine Verfassungsklage konstruiert und schließlich die politische Initiative auf Bundestagsebene gestartet. Es ist ein tolles Gefühl, dass wir jetzt in einem entscheidenden Punkt endlich zum Erfolg gekommen sind, und ich bin sehr dankbar für die Unterstützung von insgesamt 20 wissenschaftlichen Fachgesellschaften, aber auch für die Unterstützung durch die Bundesdrogenbeauftragte und durch Vertreter von Politik und der Bundestagsfraktionen. Und nicht zuletzt auch dafür, dass sich die Medien für diese Thematik interessieren und das Thema in die Öffentlichkeit bringen.

Was sind die nächsten Schritte insbesondere für die Praxis, nachdem das Gesetz nun beschlossen wurde?

Durch die gesetzliche Änderungen im Sozialgesetzbuch wird die Tabakentwöhnung jetzt erstmalig als Heilleistung und nicht mehr nur als Prävention anerkannt. In einem ersten Schritt ist die Verordnung von Entwöhnungsmedikamenten für Patienten mit tabakassoziierten Erkrankungen beziehungsweise mit ausgeprägter Nikotinsucht jetzt erstmalig gesetzlich erlaubt. Der Einsatz dieser Medikamente soll im Rahmen einer evidenzbasierten Gesamttherapie erfolgen, wodurch auch eine verhaltenstherapeutische Gruppenentwöhnung als Therapieleistung möglich wird. Diese Gesetzesänderung ist aber nur der erste Schritt. Jetzt muss der gemeinsame Bundesausschuss (GBA) die Umsetzung dieser gesetzlichen Vorgabe in konkrete abrechenbarer Behandlungsformate vornehmen. Wir werden das von wissenschaftlicher Seite mit höchster Aufmerksamkeit verfolgen und versuchen, unsere Position hier ausreichend einzubringen.

Weitere Informationen erteilt Prof. Dr. Stephan Mühlig, Professur für Klinische Psychologie und Psychotherapie der TU Chemnitz, Tel.: +49 371/531-36321, E-Mail stephan.muehlig@psychologie.tu-chemnitz.de

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Matthias Fejes
15.06.2021

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