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Tabakentwöhnung ist noch immer ein Stiefkind im deutschen Gesundheitswesen

Studie der TU Chemnitz zeigt, dass es auch anders geht: Anlässlich des Weltnichtrauchertages am 31. Mai 2019 äußert sich dazu Prof. Dr. Stephan Mühlig, Inhaber der Professur Klinische Psychologie und Psychotherapie

  • Mann steht am Rednerpult.
    Prof. Dr. Stephan Mühlig, Inhaber der Professur Klinische Psychologie und Psychotherapie der TU Chemnitz und Leiter der Raucherambulanz Chemnitz sowie der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz (PHA-TUC GmbH), präsentiert am 22. Mai 2019 Ergebnisse der sogenannten ATEMM-Studie vor Ärzten und Ärztinnen in Dresden. Foto: Franziska Loth

Dem Wissen um die Schädlichkeit des Tabakrauchen kann sich heute niemand mehr entziehen. Wer von der Sucht loskommen möchte und es allein nicht schafft, findet jedoch keine flächendeckende Versorgung mit Therapieangeboten. Und selbst wer fündig wird, muss dafür in der Regel selbst in die Tasche greifen, denn die Kosten werden von den Krankenkassen nicht bzw. nur teilweiser übernommen. Zum aktuellen Stand sprach Mario Steinebach, Leiter der Pressestelle und Crossmedia-Redaktion der Technischen Universität Chemnitz, mit Prof. Dr. Stephan Mühlig, Inhaber der Professur Klinische Psychologie und Psychotherapie der TU Chemnitz und Leiter der Raucherambulanz Chemnitz sowie der Psychotherapeutischen Hochschulambulanz (PHA-TUC GmbH).

Warum geht vom Tabakrauchen so ein hohes Suchtpotential aus?

Dies liegt zunächst an der hohen Suchtpotenz von Nikotin, das zu den suchtpotentesten Stoffen gleich nach Heroin zählt. Zudem ist die Art der Aufnahme und der schnelle Wirkungseintritt im Gehirn beim Inhalieren entscheidend für die Suchtentstehung. Mit dem Zigarettenrauch gelangt Nikotin innerhalb von Sekunden über die Lunge in den Blutkreislauf und anschließend ins Gehirn. Dort dockt es an sieben verschiedenen Rezeptortypen an und kann unterschiedliche Wirkungen hervorrufen. Zieht ein Raucher stark und häufig an seiner Zigarette, wird ein hoher Wirkstoffspiegel im Blut erzeugt, der bestimmte Rezeptortypen aktiviert, die eine beruhigende Wirkung auslösen. Umgekehrt kann die Zigarette bei weniger Wirkstoffaufnahme über andere Rezeptoren eine anregende Wirkung entfalten.

Wird jeder Raucher bzw. jede Raucherin abhängig?

Etwa jeder zweite regelmäßige starke Raucher bzw. Raucherin entwickelt eine körperliche Abhängigkeit und damit eine psychische Störung. Diese bedingt, dass unangenehme Entzugserscheinungen auftreten können, die das Aufhören erschweren. Die andere Hälfte der Raucher erlebt keine ausgeprägten körperlichen Entzugssymptome, kann aber dennoch psychisch abhängig werden.

Ist es immer noch so, dass der Gesetzgeber in Deutschland die Tabakabhängigkeit nicht als Krankheit anerkennt und damit die Therapie von den Krankenkassen nicht übernommen wird?

Leider ja, obwohl wissenschaftliche Metaanalysen auf höchstem methodischen Niveau belegen, dass vollfinanzierte Tabakentwöhnung zu einer höheren Inanspruchnahme und sogar zu einer erheblich höheren Abstinenzrate führt. Zudem sind diese Therapien auch sehr kosteneffizient, weil langfristig hohe Einsparungen erzielt werden bei vergleichsweise äußerst geringen Investitionen. Mit keiner anderen Intervention lassen sich so kostengünstig gute Lebensjahre gewinnen wie mit der Tabakentwöhnung. Es ist für mich nicht nachvollziehbar, warum die deutsche Gesetzgebung hier nicht angepasst wird, zumal Tabakrauchen volkswirtschaftlich enorme Kosten verursacht. Die direkten Kosten zur Behandlung der assoziierten Erkrankungen belaufen sich auf etwa 25 Mrd. Euro jährlich, hinzukommen 54 Mrd. Euro indirekte Kosten für tabakbedingte Ressourcenausfälle wie zum Beispiel Arbeitsunfähigkeit.

Können hier Stimmen aus der Wissenschaft ein Umdenken bewirken?

Ein Leuchtturmprojekt ist uns nun in Zusammenarbeit mit dem Berufsverband der Pneumologen in Sachsen e.V. und der AOK PLUS gelungen: Erstmals wurde im Rahmen eines Modellprojekts eine leitliniengerechte Tabakentwöhnungsbehandlung vollfinanziert in der Regelversorgung angeboten. Über fünf Jahre hatten chronisch lungenerkrankte Patienten und Patientinnen in Sachsen und Thüringen die Möglichkeit, einen ärztlich geleiteten Entwöhnungskurs mit bedarfsweiser medikamentöser Unterstützung und telefonischer Nachbetreuung über ein Jahr zu erhalten. Über 800 Personen haben teilgenommen. Die Studie untersuchte die Abstinenzrate der Teilnehmer und Teilnehmerinnen zwölf Monate später im Vergleich zur Standardbehandlung - also der ärztlicher Rat zum Rauchstopp plus Informationen zu vorhandenen Tabakentwöhnungsanbietern in der Region. In der Vergleichsgruppe wurden die Kosten für Medikamente nicht übernommen. Ein Jahr nach Kursende war fast die Hälfte der Teilnehmer und Teilnehmerinnen in der Studiengruppe stabil rauchfrei, verglichen mit nur jedem Zehnten in der Vergleichsgruppe. Der Abstinenzerfolg wurde dabei besonders streng definiert und mit apparativen Methoden kontrolliert. Die Resultate belegen, dass ein solch umfassendes Angebot die Abstinenzwahrscheinlichkeit gegenüber der bisherigen Routineversorgung um fast das Zehnfache erhöht. Ein solch hohe Abstinenzrate ist nach unserem Wissen in vergleichbaren Studien international bislang noch nicht erreicht worden.

Ihre Studie ist ja nun abgeschlossen. Wie geht es weiter?

Die Studienergebnisse werden in Fachkreisen als kleine Sensation gefeiert und sollen künftig in der gesundheitspolitischen Diskussion für die Argumentation gegenüber dem Gesetzgeber genutzt werden. Das Modelvorhaben war ein voller Erfolg und die beteiligte Krankenkasse wird es für die Zielgruppe der rauchenden Patienten und Patientinnen mit chronischer Lungenerkrankung - kurz COPD - bzw. chronischem Husten fortführen. Jedoch ohne Kostenübernahme für die Medikation, da dies aufgrund der Gesetzeslage nicht möglich ist. Unser Anliegen ist aber, dass es künftig flächendeckend für aufhörbereite Patienten und Patientinnen zugänglich wird.

Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen Ihrer Studie waren bereits chronisch krank. Bringt denn dann das Aufhören überhaupt noch etwas?

Vom Aufhören kann jeder profitieren, auch bei bereits eingetretener Erkrankung bzw. fortgeschrittenem Alter. Selbst nach einer langen Raucherkarriere können noch starke gesundheitliche Verbesserungen erzielt werden, wenn auch nicht alle bereits eingetretenen Schäden nicht wieder vollständig rückgängig gemacht werden können. Aber die vorhandene Schädigung kann gestoppt und der Verlauf der Erkrankungen positiv beeinflusst werden. Die Prognose verbessert sich und die Lebenserwartung und Lebensqualität steigt.

Benötigt jeder Raucher bzw. jede Raucherin professionelle Unterstützung und Medikamente zum Aufhören?

Nein, aber mit professioneller Unterstützung ist die Chance, langfristig rauchfrei zu bleiben, sehr viel höher. Ohne Hilfe werden über 90 Prozent der aufhörbereiten Raucher und Raucherinnen innerhalb eines Jahres rückfällig. Verantwortlich dafür sind neben Entzugserscheinungen und Suchtverlangen auch die mit Rauchen verbundenen Gewohnheiten und Auslösereize sowie die mit dem Rauchstopp verbundene vorübergehende Gewichtszunahme. Das Suchtgedächtnis ist verantwortlich dafür, dass auch Jahre nach dem Rauchstopp zigarettenbezogene Hinweisreize automatisch ein starkes Verlangen und Rückfälle verursachen können. Nikotinersatzpräparate sind besonders für stark abhängige Raucher und Raucherinnen mit körperlichen Entzugserscheinungen geeignet, aber nicht für jeden empfehlenswert, der aufhören will. Nur 40 bis 50 Prozent leiden im Entzug unter körperlichen Symptomen, die sich medikamentös lindern lassen. Diese Präparate können für Betroffene in den ersten Tagen und Wochen als begleitende Maßnahme, z. B. ergänzend zu einem verhaltenstherapeutischen Gruppenkurs, sinnvoll sein und die Erfolgswahrscheinlichkeit deutlich erhöhen.

Was hilft, um langfristig rauchfrei zu werden?

Grundvoraussetzung ist der dringende, ernstgemeinte eigene Wunsch. Es braucht eine verbindliche Entscheidung zur Rauchfreiheit. Zu diesem Zweck sollte man sich zunächst über seine persönlichen Gründe und Motive für den Rauchstopp bewusstwerden. Es ist aber auch wichtig, sich klar zu machen, was einen noch an der Zigarette hält, welche Vorteile damit verbunden sind und welche Funktionen das Rauchen bislang erfüllt hat. Erst dann gilt es, Alternativen für das Rauchen zu finden und in den Alltag einzubauen. Überlegen sollte man auch, wer im Umfeld Unterstützung geben kann. Man sollte sich auch nicht durch Rückfälle demotivieren lassen – die meisten Ex-Raucher und Ex-Raucherinnen benötigten mehrere Anläufe. Ich selbst habe über 30 Jahre schwer abhängig geraucht und auch mehre Versuche benötigt, bis ich es vor 17 Jahren geschafft habe. Wenn es nach mehreren eigenständigen Versuchen nicht klappt, sollten man sich professionelle Unterstützung holen. Dafür bieten z. B. wir in der Raucherambulanz Chemnitz professionelle und psychotherapeutisch fundierte Gruppenkurse an.

Vielen Dank für das Gespräch.

Bei Interesse an einem Kurs in der Raucherambulanz Chemnitz oder an der ATEMM-Studie (ATEMM steht für "AOK PLUS-Studie zur strukturierten Tabakentwöhnung durch pneumologische Facharztpraxen und Psychotherapeuten in Sachsen und Thüringen mit Minimalintervention vs. Maximalintervention") können sich Interessierte unter http://raucherambulanz-chemnitz.de  informieren.

Mario Steinebach
28.05.2019

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