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Ein Allrounder in Sachen Simulation

Das Institut für Mechatronik an der TU bietet mit seinem Menschmodell "Dynamicus" ein universelles Werkzeug für Bewegungsanalysen - aktueller Schwerpunkt liegt auf dem Einsatz in der Ergonomie

  • Für die optimale Gestaltung von Arbeitsplätzen: Thomas Härtel, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Mechatronik, kann mit dem 3-D-Modell einer Autokarosserie Bewegungsabläufe von Arbeitern am Montageband analysieren. Student Daniel Koska (l.) simuliert den Arbeiter, der zur Verfolgung seiner Bewegungen Sensoren trägt. Foto: Wolfgang Thieme

Wenn die Bevölkerung älter wird, dann gilt das auch für die Arbeitskräfte. "Viele Unternehmen haben erkannt, dass sie ihre Mitarbeiter optimal einsetzen müssen, damit sie lange leistungsfähig und gesund bleiben", sagt Dr. Albrecht Keil, Geschäftsführer des Instituts für Mechatronik (IfM) an der Technischen Universität Chemnitz. Beim Automobilkonzern Volkswagen sei es inzwischen sogar Pflicht, dass jeder Arbeitsplatz ergonomisch bewertet wird. Die Konzernforschung von VW greift dabei auf das Know-how des IfM zurück. Das dort entwickelte Menschmodell "Dynamicus" kommt sowohl zum Einsatz, um Arbeitsplätze ergonomisch zu gestalten, als auch, um die Mitarbeiter - beispielsweise in der Montage - zu schulen, damit sie ungesunde Bewegungen vermeiden.

Mit Dynamicus simulieren die IfM-Wissenschaftler die Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt. Egal, für welche Situation das Modell zum Einsatz kommt - der Ablauf ist immer derselbe: Grundlage ist die Erfassung der Bewegungen - per Video oder über Sensoren -, anhand derer die Forscher im Labor wichtige Körperpunkte festlegen: auf Armen, Beinen, Gelenken. In seiner Geburtsstunde besteht Dynamicus zunächst aus einem grafischen Wirrwarr zahlreicher Linien, die den Verlauf der Bewegung wiedergeben. Diese setzt das Programm zu einer Gesamtsimulation zusammen, beachtet dabei alle Gelenkwinkel und Raumkoordinaten. Vorwärts und rückwärts durch alle Bewegungsstadien lässt sich Dynamicus schließlich verfolgen, durch eine übersichtliche Bedienoberfläche merkt der Nutzer nicht, wie viel komplizierte Mathematik in der dreidimensionalen Figur steckt.

Seit 2010 hat das IfM sein Geschäftsfeld auf Simulationen für die Bewertung von Arbeitsvorgängen ausgedehnt. Arbeitsplätze werden nach einem Punktsystem bewertet - das geschah bisher durch ein Screening-Verfahren, bei dem Experten Videoaufnahmen auswerteten. Das ist jedoch zeitaufwändig. "Mit Dynamicus können wir das Prozedere erheblich beschleunigen. Wenn wir einen einminütigen Arbeitsvorgang erfassen, liefert das Menschmodell das Ergebnis bereits nach drei Minuten - und nicht nach einer Stunde wie beim Screening üblich", sagt IfM-Mitarbeiter Thomas Härtel. Dadurch können nicht nur viele Arbeitsplätze bewertet werden, sondern es lassen sich auch problemlos Varianten austesten. Ist die Ergonomie eines Arbeitsplatzes nicht zu verbessern, kann zumindest die Aufgabenverteilung häufiger rotiert werden, sodass niemand zu lange einer ungünstigen Belastung ausgesetzt ist. Ziel der Analysen ist nicht immer die maximale Leistung der Arbeiter, sondern ihre Belastbarkeit über einen langen Zeitraum. Aktuell ist Dynamicus bereits in den VW-Werken in Wolfsburg und Emden im Einsatz.

Grundlage für den Einsatz von Dynamicus in der Ergonomie war die Verbesserung der Erfassungstechnik. Die Arbeiter, die untersucht werden, tragen zur Verfolgung ihrer Bewegungen Sensoren - und die müssen zwar Daten erfassen, teilweise direkt verarbeiten und dann weiterleiten, sie dürfen aber nur eine begrenzte Größe haben, damit sie den Probanden nicht einschränken. Die Miniaturisierung dieser Technik war somit Voraussetzung für den Einsatz des Menschmodells in der Arbeitswissenschaft. Zum Einsatz kommen bei den Ergonomieuntersuchungen zum einen Marker, die an wichtigen Körperpunkten angebracht sind: auf Armen, Beinen, Gelenken. Deren Bewegung kann als Bild erfasst werden. Da aber die Untersuchungen häufig an engen Arbeitsplätzen stattfinden - etwa im Inneren eines zu montierenden Autos - werden die Marker teilweise verdeckt. Damit dann trotzdem noch Daten erfasst werden können, kommen außerdem Inertialsensoren zum Einsatz. Dieses gekoppelte System möchte das IfM zusammen mit der Advanced Realtime Tracking GmbH weiterentwickeln und auf den Markt bringen.

Von der Unfallsimulation bis zum perfekten Skisprung

In weiteren Dynamicus-Projekten beschäftigen sich die IfM-Wissenschaftler mit der Simulation von Unfällen. Hier geht es einerseits darum, die Sicherheit von Fahrzeugen zu verbessern, andererseits sind mit dem Menschmodell erstellte Simulationen Grundlage für Gutachten. So griff beispielsweise die Kölner Sporthochschule auf das Chemnitzer Modell zurück, als es darum ging, einen Unfall zu analysieren, der sich im Dezember 2010 bei der Fernsehsendung "Wetten, dass…?" ereignet hatte. "Die Kölner Wissenschaftler konnten zweifelsfrei feststellen, dass der Fehler im Bewegungsablauf des Wettkandidaten lag und es keine technischen Mängel bei der Ausrüstung gab", sagt Keil. Die Sporthochschule arbeitet bereits seit den 1990er-Jahren mit dem Chemnitzer Dynamicus-Modell. Im Mittelpunkt der Anwendung stehen dort Ganganalysen, Gutachten und Untersuchungen rund ums Turnen. Bei der Verbesserung der Sicherheit geht es am IfM vor allem um noch wenig untersuchte Spezialfälle: "In Flugzeugen galten die Sicherheitsanforderungen bisher nicht für die erste Sitzreihe - das soll sich nun ändern", sagt Härtel und erklärt: "Normalerweise ist immer der Vordersitz in das Sicherheitskonzept eingebunden. In der ersten Reihe gibt es jetzt die Idee, Airbags zu integrieren." Auch die Sitze der Flugbegleiter sind im Fokus der Forscher. Wo bisher Crashtest-Dummys angewendet wurden, kommt jetzt das Menschmodell aus Chemnitz zum Einsatz.

Kooperationspartner beim Einsatz von Dynamicus in der Rehabilitation ist vor allem das Biomechanik-Labor der Klinik Bavaria im sächsischen Kreischa. Hier wird das Menschmodell genutzt für die Auslegung von Orthesen und bei Ganganalysen während der Anpassung von Prothesen. Im US-amerikanischen Michigan kommt Dynamicus bei Messreihen zum Ruderergometer zum Einsatz. Gerade gestartet ist am IfM zudem ein Projekt zum therapeutischen Klettern: "Aus den Kräften an den Haltepunkten einer Kletterwand können wir die Kräfte berechnen, die im Körper des Kletterers wirken. So lässt sich feststellen, ob er Schonhaltungen einnimmt und irgendwo noch nicht voll belastbar ist", erklärt Keil.

Im Auftrag des Automobilzulieferers Johnson Controls darf Dynamicus zudem Probe sitzen - wenn es darum geht, den für möglichst viele Menschen optimalen Fahrzeugsitz zu entwickeln. "Jeder Autokonzern legt andere Maßstäbe für einen perfekten Sitz an. Wenn das Fahrzeug sportlich sein soll, ist zum Beispiel ein harter Sitz gefragt. Und Asiaten bevorzugen in der Regel sehr weiche Sitze", sagt Keil. Durch Dynamicus können zum einen teure Sitzprototypen eingespart werden, zum anderen können die Tests problemlos mit virtuellen Menschen aller Größen durchgespielt werden.

Weiterhin gibt das IfM mit Dynamicus Trainingswissenschaftlern ein Werkzeug an die Hand, um die Bewegungsabläufe von Sportlern zu optimieren, vom Eiskunstlauf über das Skispringen bis zum Startsprung beim Schwimmen. Mit Hilfe des Modells lassen sich Größen berechnen, die nicht gemessen werden können - etwa Drehimpulse und Belastungen in Gelenken. "Die optische Auswertung eines Videos reicht deshalb nicht aus", erklärt Keil die Notwendigkeit des Menschmodells Dynamicus.

Weitere Informationen erteilen Thomas Härtel, Telefon 0371 531-19654, E-Mail thomas.haertel@ifm-chemnitz.de, und Dr. Albrecht Keil, Telefon 0371 531-19690, E-Mail ifm@ifm-chemnitz.de.

Katharina Thehos
20.07.2011

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