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„Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Geflüchteten in Deutschland hat sich geändert“

Prof. Dr. Birgit Glorius von der TU Chemnitz ist Expertin für Migration und das europäische Asylsystem – Im Interview spricht sie über aktuelle Herausforderungen von Flüchtlingsbewegungen

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine vor drei Monaten überquerten sehr viele Menschen die Grenzen des Landes. Ein Ende des Krieges ist nicht in Sicht. Was bedeutet das für Deutschland? Wie gelingt die Aufnahme der Geflüchteten? Was unterscheidet die aktuelle Situation von der Flüchtlingskrise im Jahr 2015? Hat sich inzwischen eine Hierarchie zwischen den ukrainischen Kriegsvertriebenen und nichteuropäischen anderen Flüchtlingen und Asylsuchenden gebildet? TUCaktuell fragte dazu Prof. Dr. Birgit Glorius, Inhaberin der Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung der Technischen Universität Chemnitz.

Frau Professor Glorius, inzwischen herrscht seit drei Monaten Krieg in der Ukraine, und das ukrainische Parlament hat das Kriegsrecht gerade um weitere 90 Tage verlängert. Was bedeutet das in Hinblick auf das Fluchtgeschehen?

Bei Betrachtung der Ausreisen aus der Ukraine sehen wir ein relativ typisches Bild für Fluchtbewegungen, nämlich dass Flucht in mehreren Stadien abläuft. Im ersten Stadium ergreift eine große Zahl von Menschen die Flucht, vor allem jene, die die materiellen oder sozialen Ressourcen dazu haben, also zum Beispiel Verwandte im Ausland, bei denen sie unterkommen können. In einem zweiten Stadium fliehen Menschen vor den unmittelbaren Kampfhandlungen. Sie stehen häufig unter Schock, konnten keinerlei Vorbereitungen treffen  und sind stark auf sofortige humanitäre Hilfe angewiesen. In einem dritten Stadium – und in dem befinden wir uns jetzt – tritt ein signifikanter Gegenstrom auf, das heißt Geflüchtete fangen an, zurückzukehren, entweder weil ihre Wohnorte nicht mehr Teil des Kriegsgeschehens sind und sie somit auf eine dauerhafte Rückkehr hoffen können, oder zumindest temporär, um nach der Wohnung oder nach Familienangehörigen zu sehen, die zurückgeblieben sind. Die Zahl der Grenzübertritte von Polen in die Ukraine ist bereits seit Anfang April genauso hoch, teils höher, als die Zahl der Einreisen aus der Ukraine nach Polen. Das ist ein Indiz dafür, dass wir uns in dem dritten Stadium befinden.

Mit welchen weiteren Entwicklungen müssen wir rechnen?

Hinsichtlich der weiteren Dynamik und der Dauerhaftigkeit der Vertreibungssituation müssen wir abwarten, wie sich das Kriegsgeschehen weiter entwickelt. Derzeit sieht es ja danach aus, als würde sich das Kriegsgeschehen auf die Ost- und Südostukraine konzentrieren, während es im Norden und Westen des Landes wieder relativ ruhig ist. Möglicherweise verfestigt sich diese Situation ähnlich wie in den 2014 annektierten Gebieten auf der Krim und den Kriegsgebieten des Donbass. Diese Gebiete wurden bis Anfang 2022 von einem Viertel der Bevölkerung verlassen, wobei nicht alle als Flüchtlinge ins Ausland gegangen sind. Viele sind in die Arbeitsmigration gegangen, oder sie haben sich im westlichen Teil der Ukraine niedergelassen. Das kann nun wieder so passieren, denn neben dem Kriegsgeschehen als solches befindet sich die Ukraine ja auch in einer ökonomischen Krise, was Arbeitsmigration fördert. In der Summe könnte das für die Europäische Union bedeuten, dass die Zahl der Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich in EU-Ländern aufhalten, weiter steigt. Jedoch werden nicht alle auf einen Flüchtlingsstatus angewiesen sein.

Gerade in Deutschland wird die Ankunft der Ukrainerinnen und Ukrainer immer wieder mit Blick auf die Flüchtlingsbewegungen von 2015 diskutiert. Können wir auf den Erfahrungen von 2015 aufbauen?

Der wichtigste Unterschied in Hinblick auf das Alltagsleben der Geflüchteten ist der Status. Die Kriegsvertriebenen aus der Ukraine erhalten sofort einen temporären Aufenthaltsstatus und eine Arbeitserlaubnis. Sie müssen sich keinem Asylverfahren unterziehen und sind dementsprechend auch nicht an bestimmte, von den Behörden zugewiesene Wohnorte gebunden. Viele erhielten überdies sehr rasch Zugang zu privatem Wohnraum. Ab Juni werden sie zudem mit Personen, die einen Flüchtlingsstatus haben, gleichgestellt, das heißt sie erhalten die gleichen Sozialleistungen und haben Anspruch auf Betreuung durch die Jobcenter. Die Geflüchteten von 2015/16 hingegen durchliefen teils langwierige Asylverfahren und mussten währenddessen in den Erstaufnahmeeinrichtungen leben, mit dementsprechend geringeren Integrationsangeboten und unter insgesamt schlechteren Lebensbedingungen. Nach aktuell geltenden Gesetzen müssen sie dort mindestens sechs Monate bis maximal 18 Monate verbleiben, manche Gruppen aber auch für die gesamte Dauer des Verfahrens. Auch nach dieser Phase und der Weiterverteilung in Städte und Gemeinden wurden viele Asylsuchende in Gemeinschaftseinrichtungen untergebracht, wo sie zum Teil heute noch leben, obgleich viele inzwischen einen Flüchtlingsstatus haben. Bedingt durch die schwierige Wohnungsmarktsituation in vielen Städten Deutschlands und die großen Konkurrenz um günstigen Wohnraum ist es vielen anerkannten Flüchtlingen bis heute nicht gelungen, eine eigene Wohnung zu finden.

Viele Lernerfahrungen der damaligen Zeit können heute in Bezug auf die Ukraine-Flüchtlinge abgerufen werden. So gibt es beispielsweise inzwischen eine große Zahl an ausgebildeten und durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge zertifizierten DaZ-Lehrkräfte, die Integrationskurse unterrichten können, so dass die Kapazitäten dieser Kurse nun rasch wieder hochgefahren werden können, um auf den verstärkten Bedarf zu reagieren. Auch die Zivilgesellschaft hat an Kompetenzen gewonnen, was die Unterstützung in der ersten Phase des Ankommens anbelangt, zum Beispiel bei Behördengängen. Schließlich haben auch Ausländerbehörden seit 2015 ihre Kapazitäten aufgestockt und an Kompetenzen hinzugewonnen, die jetzt hilfreich sind – selbst wenn während der Corona-Pandemie vielerorts die Personalkapazitäten wieder zurückgefahren wurden.

Und was ist heute anders als damals?

Einen großen Unterschied im Vergleich der beiden Fluchtereignisse sehe ich hinsichtlich des Bleibewunsches. Während die Geflüchteten von 2015/16 überwiegend in Deutschland bleiben wollten, insofern der ihnen zugesprochene Status ein Bleiben ermöglicht, ist es bei den ukrainischen Geflüchteten derzeit kaum abzuschätzen, wie viele von ihnen dauerhaft in Deutschland verbleiben werden. Aktuelle Umfrageergebnisse zeigen, dass ein Drittel mit einer baldigen Rückkehr in die Ukraine rechnet, 19 Prozent haben noch keine Pläne, 42 Prozent wollen in Deutschland bleiben. Ob sich eine baldige Rückkehr realisieren lässt, und inwieweit die aktuell geäußerten Wünsche und Vorstellungen sich über die Zeit ändern, ist natürlich mit dem weiteren Kriegsgeschehen bzw. dem Friedensprozess verbunden.

Die meisten ukrainischen Geflüchteten, die nach Deutschland kommen, steuern anscheinend die großen Städte an, deren Aufnahmekapazitäten teilweise bereits erschöpft sind. Auch 2015 war die Verteilung der Geflüchteten ein großes Thema. Sie haben insbesondere die Ansiedlung von Geflüchteten in ländlichen Regionen erforscht. Kann das ein Lösungsansatz für die ukrainischen Kriegsflüchtlinge sein?

Das stimmt, die meisten ukrainischen Geflüchteten streben die großen Städte, wie Berlin, München oder Nürnberg, an, teils weil sie diese kennen oder Menschen kennen, die dort wohnen, teils weil sie sich in den großen Städten bessere Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten erhoffen. Geflüchtete, die über das Asylverfahren in Deutschland verteilt werden, gelangen im Gegensatz dazu zunächst über den Königsteiner Schlüssel in bestimmte Bundesländer und werden von dort auf Landkreise und kreisfreie Städte aufgeteilt. Unsere Forschungen zeigen ein sehr heterogenes Bild der Lebensbedingungen und Lebenszufriedenheit der Geflüchteten, die an ländlichen Orten oder in Kleinstädten aufgenommen wurden und dort durch die Asyl- und Integrationsgesetzgebung auch nach Ende des Verfahrens verbleiben müssen. Insbesondere Familien mit Kindern schätzen die vergleichsweise Ruhe und denken, dass ihre Kinder auf dem Lande fern von schlechten Einflüssen aufwachsen können, welche sie wiederum in den Großstädten vermuten. Auch Menschen, die selbst aus ländlichen Regionen stammen, sind in der Regel zufrieden und finden sich auch mit den Besonderheiten des Landlebens, etwa der erschwerten Mobilität, rasch ab. Andere hingegen streben in die größeren Städte, weil sie sich dort bessere Arbeitsmöglichkeiten oder auch eine geringere Stigmatisierung erhoffen als in ländlichen Regionen, in denen Menschen mit anderem Aussehen teils mit Misstrauen betrachtet werden.

Hinsichtlich der gelenkten Verteilung im Vergleich zur eigenständigen Wohnortwahl gibt es inzwischen Studienergebnisse, die eine bessere Arbeitsmarktintegration bei freier Wohnortwahl nachweisen. Vor diesem Hintergrund ist es natürlich zu begrüßen, dass Ukrainerinnen und Ukrainer ihren Wohnort in Deutschland frei wählen können. Ich halte auch nichts davon, hier Druck auszuüben oder gar Sanktionierungsmaßnahmen zu entwickeln, die Menschen an einem bestimmten Ort halten sollen, weil es politisch-administrativ so sinnvoll erscheint.

Es wird auch kritisiert, dass die derzeitige Aufnahmepolitik rassistisch ist, da eine Hierarchie zwischen den ukrainischen Kriegsvertriebenen und nichteuropäischen anderen Flüchtlingen und Asylsuchenden gebildet wird. Wie sehen Sie das?

Rein faktisch wird natürlich eine Hierarchie hergestellt zwischen Geflüchteten, die das Asylverfahren durchlaufen, und jenen, die aufgrund der Massenzustromrichtlinie einen temporären Schutzstatus erhalten. Die jeweiligen Konsequenzen für den täglichen Lebensvollzug habe ich ja gerade erläutert. Diesbezüglich befinden sich ukrainische Geflüchtete in einer vorteilhaften Lage, übrigens auch gegenüber denjenigen, die derzeit aus anderen Ländern als der Ukraine nach Deutschland kommen und um Schutz ersuchen, und das sind auch nicht so wenige. Die Entscheidung der europäischen Regierungen, die Temporary Protection Directive 2022 anzuwenden, 2015 jedoch nicht, könnte man durchaus aus einer rassismuskritischen Perspektive analysieren. Da ich das nicht gemacht habe, erlaube ich mir an dieser Stelle kein Urteil darüber.

Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Geflüchteten in Deutschland hat sich geändert. Die gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber der ukrainischen Geflüchteten erfolgt unter einer Weglenkung des Blicks von anderen Flüchtlingsgruppen, und dieser Blickwechsel wird erleichtert durch lang eingeübte rassistische Wahrnehmungsmuster in unserer Gesellschaft, die es uns offensichtlich leichter machen, das Leid der Kriegsvertriebenen aus der Ukraine mit Empathie und Solidarität wahrzunehmen, als jenes von Geflüchteten aus entfernteren Ländern, denen überdies latent unterstellt wird, sie hätten keine echten Fluchtgründe und würden nicht ursächlich vor einem Krieg fliehen. Auch die Blickrichtung der Medien ist im Übrigen rassistisch geprägt: Während die Bilder der ukrainischen Flucht von blonden Frauen und hellhäutigen Kindern dominiert werden, rastete der mediale Blick 2015 relativ schnell auf Massenbildern von dunkelhaarigen und dunkelhäutigen Männern ein, über die man vielfältige Stereotype und kollektive Ängste vor einem nicht zu bewältigendem Ansturm wachrief. Dass unter den 2015 Geflüchteten ebenfalls viele Frauen und Kinder waren, so wie es unter den aus der Ukraine Geflüchteten ebenfalls viele dunkelhaarige und dunkelhäutige Menschen gibt, wird durch dieses Mainstreaming der Bilder ausgeblendet.

Was hilft gegen derartige rassistische Prägungen, wenn sie – wie Sie schildern – offensichtlich von mehreren Seiten an uns herangetragen werden, so dass man ihnen nur schwer entkommen kann?

Es hilft, rauszugehen und Geflüchtete kennenzulernen – egal welcher Haut- und Haarfarbe.

Vielen Dank für das Gespräch.

Weitere Informationen erteilt Prof. Dr. Birgit Glorius, Telefon 0371 531-33435, E-Mail birgit.glorius@phil.tu-chemnitz.de.

Zur Person: Prof. Dr. Birgit Glorius

Nach dem Studium der Geographie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg zog es Birgit Glorius zum Auslandsstudium an die University of Texas (Austin). 2007 promovierte sie zum Thema „Polnische Migranten in Leipzig – Eine transnationale Perspektive auf Migranten und Integration“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Es schlossen sich daran Tätigkeiten als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Halle und Leipzig an, bevor sie 2013 an die TU Chemnitz wechselte und die Juniorprofessur für Humangeographie Ostmitteleuropas übernahm. Seit Oktober 2018 leitet sie die Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung an der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz. 2021 übernahm sie die Leitung des wissenschaftlichen Beirats des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, diesem Beirat gehört sie bereits seit 2019 an.

Die Forschungsschwerpunkte von Glorius liegen im Bereich der Migrationsforschung und des demografischen Wandels. Zudem arbeitet sie zu sozialgeographischen Themen und Fragen der Regionalentwicklung. Ihr besonderes Interesse galt in den vergangenen Jahren dem sächsisch-tschechischen Grenzraum, Bulgarien und den Westbalkanstaaten. Glorius leitete u. a. das im Rahmen von HORIZON 2020 geförderte Forschungsprojekt „Evaluierung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems unter Druck und Empfehlungen für seine zukünftige Entwicklung“ (CEASEVAL). Aktuell befasst sich die Migrationsforscherin vorrangig mit Projekten zur Europäischen Asylpolitik und mit der Integration von Geflüchteten in ländlichen Räumen Deutschlands.

Mario Steinebach
24.05.2022

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