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Das Ende des Vereinigten Königreichs?

Am 6. Mai 2021 wählt Schottland ein neues Parlament - Prof. Dr. Klaus Stolz, Inhaber der Professur Britische und Amerikanische Kultur- und Länderstudien der TU Chemnitz, blickt auf die bevorstehende Parlamentswahl in Schottland und deren mögliche Folgen

Am 6. Mai 2021 wählt Schottland ein neues Parlament. In den letzten Wochen hat sich die Parteienlandschaft noch einmal gewandelt. Zu den beiden bereits existierenden pro-Unabhängigkeitsparteien, der regierenden Scottish National Party (SNP) und den Grünen, gesellt sich eine zusätzliche Kraft. Der umstrittene ehemalige Ministerpräsident Alex Salmond hat mit Alba (gälisch für: Schottland) eine neue Unabhängigkeitspartei gegründet, mit deren Hilfe er die Listensitze abräumen will, die der SNP wegen der vermutlich großen Zahl direkt gewonnener Wahlkreismandate verschlossen bleiben. Ziel ist eine Supermehrheit für Unabhängigkeit im nächsten Parlament.

Tatsächlich lassen aktuelle Umfragen keinen Zweifel daran, dass die SNP stärkste Kraft bleibt und mit Nicola Sturgeon erneut die Ministerpräsidentin stellen wird. Sehr wahrscheinlich kann sie dabei auch auf eine Mehrheit der Unabhängigkeitsbefürworter im Parlament bauen. Ein gutes Abschneiden von Alba würde ihre Hoffnung auf eine absolute Mehrheit der SNP jedoch zunichtemachen. Die persönlichen Animositäten der beiden Parteivorsitzenden sowie existierende ideologische und strategische Differenzen dürften dann den Handlungsspielraum einer SNP Minderheitsregierung deutlich reduzieren.

Ob als klare Solostimme oder in Form eines disharmonischen mehrstimmigen Chors, die Rufe nach schottischer Unabhängigkeit werden wieder deutlich lauter werden. Die nächste offene Konfrontation zwischen schottischer und britischer Regierung ist bereits abzusehen. Die Auseinandersetzung um die zukünftige Stellung Schottlands basiert dabei auf gegenläufigen Vorstellungen über das Wesen des multinationalen britischen Staates und dessen Spielregeln. Das Vereinigte Königreich steht vor einer existentiellen Verfassungskrise.

Der britische Staat ist ein eigenartiges Gebilde. Die vier Nationen, die heute das Vereinigte Königreich bilden – England, Schottland, Wales und Nordirland –, sind zu unterschiedlichen Zeiten und unter unterschiedlichen Bedingungen Teil der Union geworden. Dennoch liegt formalrechtlich die Souveränität einzig und allein beim britischen Parlament in Westminster, das durch nichts gebunden ist, noch nicht einmal durch seine vorherigen Beschlüsse. Diese unitarische Doktrin gilt auch im Verhältnis zu den 1999 unter Tony Blair im Zuge der sogenannten Devolution geschaffenen Parlamente in Schottland, Wales und Nordirland. Sie erlaubt es Westminster und damit der britischen Regierung selbst in die explizit für diese Parlamente reservierten Kompetenzbereiche hineinzuregieren oder diese gar wieder abzuschaffen.

Dieser verfassungsrechtlichen Sicht steht jedoch ein bis vor kurzem weit verbreitetes politisches Selbstverständnis des Vereinigten Königreichs als Union gegenüber, d. h. als staatlicher Verbund, der die Identität der einzelnen Landesteile wahrt. Diese Vorstellung verbietet gleichermaßen ein assimilierendes britisches Nationbuilding wie auch den unvermittelten Rekurs auf die aus englischen Verfassungstraditionen abgeleiteten absoluten Souveränitätsrechte. Im Gegenteil, für Schottland gehört dazu ein grundsätzliches Selbstbestimmungsrecht, das sowohl innerhalb als auch außerhalb der Union wahrgenommen werden kann. Mit dem 2014 abgehaltenen ersten Unabhängigkeitsreferendum sieht man zudem einen Präzedenzfall, der ebenso wie die formale Zusicherung mehrheitlicher Selbstbestimmung für Nordirland durch die britische Regierung (im Karfreitagsabkommen von 1998) für ein generelles Selbstbestimmungsrecht der britischen Nationen spricht.

Tatsächlich war britische Verfassungspolitik über Jahrhunderte von diesem Spannungsverhältnis zwischen unitarischer Doktrin und unionistischer Realpolitik geprägt. Auch wenn der konkrete Aushandlungsprozess keineswegs immer friktionslos verlief, so war das Nebeneinander von staatlicher Integration und gesellschaftlich-kultureller Autonomie einer der zentralen Gründe, warum die Union lange Zeit nicht ernsthaft in Frage gestellt wurde.

Mit dem Brexit und insbesondere mit Boris Johnson als Premierminister sind diese Errungenschaften des britischen Pragmatismus jedoch zunehmend verloren gegangen. Im Brexit wurde der unitarische Charakter des Vereinigten Königreichs für jeden erkennbar kompromisslos durchgesetzt. Gegen eine klare Mehrheit in Schottland und Nordirland wurde das ganze Land aus der EU geführt und auch während der Brexit-Verhandlungen spielte die abweichende Haltung in Schottland keine Rolle. Bei der Rückübertragung ehemals europäischer Gesetzgebungskompetenzen wurden schließlich erstmals Bereiche, die im Devolutionsgesetz für Schottland und Wales ausgewiesen waren (u.a. Landwirtschaft, Fischerei, Umwelt- und Tierschutz), gegen den erklärten Willen der beiden Parlamente, aber mit höchstrichterlicher Zustimmung, an das britische Parlament in Westminster gegeben. Ein roll-back der Devolutionsgesetzgebung ist also nicht nur formal, sondern auch realpolitisch möglich. Dass Boris Johnson in einem Interview die Devolution als größten Fehler der Regierung Blair bezeichnet hat, passt ins Bild und lässt das Vertrauen der Schotten in die britische Regierung nicht eben wachsen. Ein aggressiver Neo-Unionismus, der erstmals so etwas wie eine einheitliche britische Identität beschwört, hat den alten auf multiplen Identitäten fußenden Unionismus abgelöst.

Nach den schottischen Parlamentswahlen werden die beiden Positionen frontal aufeinandertreffen. Schottische Nationalisten werden argumentieren, dass ihr Wahlsieg ihnen ein eindeutiges demokratisches Mandat für ein erneutes Unabhängigkeitsreferendum gäbe. Die Gesetzesvorlage zur Durchführung des Referendums ist bereits geschrieben und könnte direkt nach der Wahl im schottischen Parlament verabschiedet werden. Boris Johnson würde diese wohl vor Gericht wieder einkassieren können. Von Nicola Sturgeon und der SNP ist ein nicht genehmigtes Referendum wie in Katalonien nicht zu erwarten, auch wenn es dafür in der SNP durchaus Befürworter gibt. Die neue schottische Regierung wird vielmehr darauf setzen, dass die permanente Verweigerungshaltung der britischen Regierung die existierende knappe Unabhängigkeitsmehrheit weiter vergrößern würde. Wenn Alex Salmond’s Alba Partei allerdings zur Mehrheitsbeschaffung notwendig ist, stünde Sturgeon unter gewaltigem Druck ihren zurückhaltenden Kurs aufzugeben. In London hofft man dagegen auf eine dauerhafte Spaltung und ein Abebben der Unabhängigkeitsbewegung.

Unabhängig vom Ausgang dieses Konflikts scheint die Union jedoch bereits jetzt am Ende. Der Bogen ist überspannt, der point of no return ist überschritten. Die parteipolitische Spaltung der Nationalisten in Schottland und taktisches Geschick der britischen Regierung könnten die schottische Abspaltung fürs erste verhindern, eine Rückkehr zum status-quo ante ist jedoch nur schwer vorstellbar. Zeitgleich mit dem show-down in Schottland regt sich auch in den anderen Landesteilen der Unmut. Mit der de-facto Zollgrenze in der Irischen See und der beginnenden Abkehr der protestantisch-unionistischen Gemeinschaft Nordirlands von London ist eine Wiedervereinigung Irlands so nah wie nie zuvor. In Wales haben Umfragen erstmals eine über 40prozentige Zustimmung zur Unabhängigkeit gemessen. Und auch in England ist die Union passé. Ein Großteil der Engländer, insbesondere im Lager der Konservativen sieht in einer Abspaltung Schottlands einen Preis, den man für den Brexit zu zahlen bereit ist. Der alte Unionismus ist tot – in allen Landesteilen. Entwicklungen in nur einem der aktuellen Konfliktherde können jederzeit einen Dominoeffekt auslösen. Die unitarische Verfassungsdoktrin allein wird das Vereinigte Königreich auf Dauer nicht zusammenhalten.

(Autor: Prof. Dr. Klaus Stolz, Inhaber der Professor für Britische und Amerikanische Kultur- und Länderstudien an der TU Chemnitz)

Mario Steinebach
03.05.2021

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