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„Eine Grenze ist erreicht, wenn Protest in Gewalt umschlägt“

Dr. Piotr Kocyba von der TU Chemnitz ist Experte für rechten und populistischen Protest – Im Interview spricht er über Erkenntnisse aus den sogenannten „Corona-Spaziergängen“, blickt nach vorn auf das Mobilisierungspotential rechter und populistischer Gruppierungen im Herbst und Winter und zurück auf die Ereignisse in Chemnitz Ende August 2018

Dr. Piotr Kocyba ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas (Leitung: Prof. Dr. Stefan Garsztecki) der Technischen Universität Chemnitz und erforscht die Hintergründe und Dynamiken von Protesten, insbesondere mit Blick auf rechtsradikale und populistische Strukturen. Ende 2021 veröffentlichte er mit Kolleginnen und Kollegen aus Berlin und Wien ein Working Paper über qualitative und quantitative Herausforderungen bei der Erforschung unter anderem von Pegida, ordnete im Wissenschaftspodcast „TUCscicast“ der TU Chemnitz gemeinsam mit seinem Kollegen Dr. Alexander Leistner von der Universität Leipzig die sogenannten „Corona-Spaziergänge“ ein und ist aktuell ein gefragter Experte zu Protestentwicklungen mit Blick auf den kommenden Herbst und Winter. 

Im Interview spricht er unter anderem über Erkenntnisse aus den vergangenen Corona-Protesten, wie sich reaktionäre Bewegungen wie die „Freien Sachsen“ organisiert haben, welche Relevanz die neuen Themen „Energie“ und „Russland“ bei der Mobilisierung von Menschen haben und wie er die Ereignisse in Chemnitz Ende August 2018 erlebt hat und nun wissenschaftlich einordnet.

Herr Kocyba, wir haben Ende des vergangenen Jahres über die Corona-Proteste gesprochen. Damals hatten Sie gerade ein Working Paper zu rechten Protesten veröffentlicht. Wir sprachen darüber, warum und welche Menschen Politikerinnen und Politiker zu Hause bedrohen – und wie sich rechtsradikale und populistische Gruppierungen wie die „Freien Sachsen“ über Messenger-Dienste wie Telegram organisieren. Das scheint gerade alles weit weg zu sein. Wie haben Sie das Jahr 2022 mit Blick auf das Protestgeschehen bisher erlebt?

Die Proteste gegen die Corona-Maßnahmen haben erst Anfang dieses Jahres ihren Höhepunkt erreicht und dabei die – gelinde gesagt nicht immer klugen Einschränkungen der Versammlungsfreiheit – systematisch umgangen, indem sich die Bürgerinnen und Bürger zu sogenannten Spaziergängen versammelten. Diese Proteste ebbten nur langsam ab und finden teilweise immer noch statt –wenn auch mit einer weitaus geringeren Teilnehmendenzahl. Zudem wird auf den einschlägigen Kanälen, etwa auf Telegram, weiterhin die Stimmung aufgeheizt und das vor allem auch vor dem Hintergrund des russischen Angriffskrieges in der Ukraine. Es war also recht früh deutlich zu sehen, dass es ein neues Thema gibt, mit dem Akteure wie die „Freien Sachsen“ Hoffnung für eine weitere Mobilisierung verbinden.

Wie haben sich Gruppierungen wie „Freie Sachsen“ und „Querdenken“ nach Ihrer Einschätzung entwickelt?

Es wurden Netzwerke geschaffen, nicht immer erfolgreich Allianzen geschmiedet, Know-how erworben sowie Ressourcen gesammelt. Man hat sich auch bei Wahlen versucht, wo die „Freien Sachsen“ bei den Kommunal- und Landtagswahlen ausgewählte Kandidatinnen und Kandidaten unterstützen. Hier zeigt sich die Strategie, den eigenen Einfluss auf Politik und Gesellschaft in Sachsen weiter auszubauen. Wenn man den internen Debatten auf Telegram folgt, gibt es dort die Hoffnung, im Falle einer ernsten Versorgungsknappheit mit Gas erneut stärker ins Rampenlicht zu rücken.

Das Thema Gas, die damit verbundene Energiekrise und eine historisch hohe Inflation sind aktuell medial die bestimmenden Themen. Wie blicken Sie vor diesem Hintergrund auf den bevorstehenden Herbst und Winter?

Es wäre spekulativ, Prognosen zu wagen. Zudem muss man vorsichtig dabei sein, keine Mobilisierung herbeizureden. Sollte sich aber die Krise verschärfen, gäbe es alle Voraussetzungen für eine erneute Protestwelle, zumal die entsprechenden Akteure das Thema der Energiepreise früh für sich entdeckt haben. Deswegen ist es gut, sich bereits jetzt darüber Gedanken zu machen. Von einem „Wut-Winter“ oder von „Volksaufständen“ zu sprechen, ist allerdings kontraproduktiv. Eine sachliche Debatte ist hier notwendig.

Mit Blick auf die jüngst beschlossenen Maßnahmen der Bundesregierung zum Umgang mit der Energiekrise – Stichwort „Gasumlage“ – wird eine große Anzahl an Menschen betroffen sein. Muss eine demokratische Gesellschaft, gerade bei stark polarisierenden Themen, Proteste nicht auch aushalten können? Wo würden Sie die Grenze zwischen legitimem Protest und populistisch motivierten Aufständen ziehen?  

Protest ist ein demokratisches Grundrecht und sollte keinesfalls leichtfertig von staatlicher Seite beschränkt werden. Eine Grenze ist erreicht, wenn Protest in Gewalt umschlägt – zu denken wäre etwa an den Versuch, das Reichstagsgebäude zu stürmen. Solange es aber friedlich bleibt, ist jeder Protest zu tolerieren. Das bedeutet allerdings nicht, dass man Inhalte, Organisatorinnen und Organisatoren beziehungsweise Teilnehmende nicht auch öffentlich kritisieren dürfte. Zur Demokratie gehört eben auch, dass man beispielsweise auf Gewaltaufrufe oder demokratiefeindliche Plakate, Sprechchöre und Ähnliches in der Öffentlichkeit hinweisen kann. Von den Teilnehmenden etwa der Pegida-Proteste wird das bereits als eine Einschränkung ihrer Rechte wahrgenommen. In der Debatte gib es sehr viel Aufregung und Befindlichkeiten.

Macht es für das Mobilisierungspotential einen Unterschied, ob die Themen Russland, Energiepreise oder Corona im Vordergrund stehen?

Verschiedene Themen ziehen unterschiedliche Personen an. In diesem Fall könnte ich mir aber vorstellen, dass es große Überlappungen geben wird, weil sich hier sehr häufig eine grundlegende Ablehnung des sogenannten „Mainstreams“ ausdrücken dürfte und die „Schuldigen“, gegen die man protestiert, quasi dieselben wären. Darüber hinaus scheinen dieselben Gruppierungen hier Stimmung zu machen, die sich bereits bei den Montagsmahnwachen, der Mobilisierung im Kontext von Pegida oder den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen hervorgetan haben. Aber das konkrete Protestgeschehen hängt von der tatsächlichen Entwicklung der politischen wie wirtschaftlichen Situation im Kontext des Krieges in der Ukraine ab.

Wie sind wir mit Blick auf radikalisierte Proteste in Sachsen aufgestellt?

Ich denke, man sollte keinesfalls die Versammlungsfreiheit unnötig einschränken und der Polizei nicht die undankbare Aufgabe aufbürden, mit illegalen Protesten umgehen zu müssen. In diesem Kontext weiß ich, dass sich die Polizei in Sachsen und vor allem in Chemnitz viele Gedanken darüber macht, was man aus der vergangenen Protestwelle lernen kann. Zudem wäre es an der Zeit, etwa über bildungspolitische Programme die Arbeit der Demokratieverächter der äußersten Rechten zu erschweren und dies durch Forschungsarbeit zu begleiten. Neben einer solchen Dialogbereitschaft muss es aber auch eine klare Abgrenzung vom äußerst rechten Rand geben.

In diesen Tagen jähren sich die Ereignisse von Chemnitz 2018 zum vierten Mal. Wie haben Sie diese Zeit Ende August 2018 erlebt und welche Erkenntnisse ziehen sie aus den damaligen Ausschreitungen?

Die Ausschreitungen im August 2018 habe ich nur aus der Ferne erlebt. Wenn man aber die mediale Berichterstattung und die Analysen von Kolleginnen und Kollegen liest, dann entwickelte sich hier eine Protestdynamik, die Kräfte der äußersten Rechten ebenso wie aufgebrachte Bürgerinnen und Bürger angezogen hat. Im Sog der aufgepeitschten Stimmung gab es auch die allen bekannten Entgleisungen und Tabubrüche – zu denken wäre an das Zeigen beziehungsweise Tragen verfassungsfeindlicher Symbole, den rabiaten Umgang mit den Sicherheitsbehörden wie auch Journalistinnen und Journalisten bis hin zum Jagen von Personen, die ihrem Äußeren nach als nicht deutsch klassifiziert wurden. Das alles hat mich in der Überzeugung bestärkt, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit rechtem Protest in Sachsen besonders wichtig ist. Weiterhin gibt es nämlich offene Fragen nach etwa den Mobilisierungswegen, Allianzen zwischen Bürgerinnen und Bürgern aus der „Mitte“ der Gesellschaft mit den Akteuren vom rechten Rand, den dahinterstehenden Lebenswelten und Normalisierungsstrategien etc. Diese Liste ließe sich leicht fortführen. Ich denke, ein Zentrum zur Beforschung rechten Protests an der TU Chemnitz zu etablieren, würde eine große wissenschaftliche Bedeutung und mediale Strahlkraft entwickeln. Und es könnte auch eine Brücke zur Zivil- und Stadtgesellschaft geschlagen werden.

Haben Politik und Stadtgesellschaft aus Ihrer Sicht die richtigen Lehren aus den damaligen Ereignissen gezogen und die Brandmauer gegen Rechts ausreichend gestärkt?

Die Ereignisse waren in der Tat ein Schock und haben Reaktionen bei den Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträgern wie auch bei vielen Bürgerinnen und Bürgern ausgelöst. Zu verweisen wäre einerseits auf Aktionen, die sich symbolisch gegen Rechts richteten. Die wohl bekannteste Veranstaltung dieser Art war das Konzert „Wir sind mehr“. Andererseits gab es Dialogangebote, bei denen sogar Spitzenpolitiker wie der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer in Austausch mit Bürgerinnen und Bürgern getreten sind, die das öffentliche Entsetzen angesichts der Ereignisse von 2018 nicht nachempfinden konnten und die teilweise weiterhin ablehnend gegenüber der Aufnahme von Geflüchteten waren. Ob dies alles als „Brandmauer“ verstanden werden kann, hängt wesentlich von der eigenen politischen Verortung ab. Klar ist allerdings, dass solche Aktionen nur den Anfang für eine intensive und weitrechende Auseinandersetzung mit dem Druck von Rechts sein können. Das hat zumindest das Protestgeschehen gegen die Corona-Maßnahmen oder die Gründung der „Freien Sachsen“ nochmals deutlich gemacht. Und Chemnitz wäre ein hervorragender Ort, um im Rahmen eines entsprechenden Zentrums zur Beforschung rechten Protestes einen solchen langwierigen Prozess zu begleiten.

Vielen Dank für das Gespräch.

Weitere Informationen erteilt Dr. Piotr Kocyba, Telefon 0371 531-38521, E-Mail piotr.kocyba@phil.tu-chemnitz.de.

Matthias Fejes
24.08.2022

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