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„Der Krieg wirft sehr grundsätzliche Fragen zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, zur europäischen Sicherheitsarchitektur und zur internationalen Ordnung insgesamt auf“

Ein Jahr Krieg in der Ukraine: Prof. Dr. Kai Oppermann ist Experte für internationale Politik an der TU Chemnitz und ordnet im Interview verschiedene Entwicklungen zur Lage in der Ukraine und darüber hinaus ein

Prof. Dr. Kai Oppermann ist Inhaber der Professur Internationale Politik an der Technischen Universität Chemnitz. Im Interview spricht er darüber, wie er das erste Kriegsjahr erlebt hat, wie er das Agieren der Bundesregierung in dieser Krise einschätzt und welche Bedeutung die Unterstützung der Ukraine durch den Westen für die Sicherheit Taiwans hat.

Herr Professor Oppermann, ein Jahr ist es her, dass Russland die Ukraine überfallen und damit eine historische Zäsur markiert hat. Sie sind Experte für international Politik und sicher war dieses Ereignis auch für Sie als Forscher eine Ausnahmesituation. Wie haben Sie die Ereignisse des vergangenen Jahres erlebt?

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine ist in meinem Fach selbstverständlich das alles überragende Thema. Der Krieg wirft sehr grundsätzliche Fragen zur deutschen Außen- und Sicherheitspolitik, zur europäischen Sicherheitsarchitektur und zur internationalen Ordnung insgesamt auf.

Was hat sich geändert, wenn Sie heute mit ihren Kolleginnen und Kollegen sprechen?

Manche theoretischen Annahmen werden durch den Krieg in Frage gestellt und müssen überdacht werden. Die Fachdiskussionen finden zudem deutlich stärker als vor dem Krieg in der Öffentlichkeit statt. Dies zeigt den großen Bedarf nach wissenschaftlicher Einordung und Expertise, führt aber teilweise auch zu überspitzten Argumenten und polemischer Kritik. Der wissenschaftlichen Diskussion ist das nicht immer zuträglich.

Sie spielen wahrscheinlich auf lautstarke Twitter-Diskussionen und den Polit-Talk an. Ein Kritikpunkt, der von verschiedener Seite immer wieder vorgebracht wurde, war der Mangel an Kommunikation und Erklärung durch politische Entscheidungsträgerinnen und -träger. Haben Sie das auch so wahrgenommen? 

Ja. Der Bundesregierung gelang es bisweilen nicht gut, ihre Politik für alle nachvollziehbar und mit einer klaren Stimme zu begründen und zu erläutern.

Ganz anders wiederum die sogenannte Zeitenwende-Rede von Olaf Scholz. Bereits kurz nach Kriegsbeginn hat der Bundeskanzler einen Wendepunkt der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik markiert und unter anderem eine seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beispiellose Aufrüstung der Bundeswehr in Aussicht gestellt. Wie wurde das in der internationalen Gemeinschaft und insbesondere bei den westlichen Partnerinnen und Partnern aufgenommen?

Deutschlands internationale Partnerinnen und Partner, allen voran die USA, haben dies zunächst sehr positiv aufgenommen. Die Erwartung, dass Deutschland einen größeren Beitrag zur europäischen Sicherheit leistet und das NATO-Ziel erreicht, zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung auszugeben, besteht ja schon lange.

Ein Gegenargument der bisherigen Regierungen für mehr Rüstungsausgaben betraf dabei insbesondere die deutsche Vergangenheit.

Ja, es wurde international auf jeden Fall anerkannt, dass die „Zeitenwende“ gerade für Deutschland einen besonders tiefen Einschnitt markiert. Allerdings hat sich die internationale Einschätzung seither eingetrübt.

Was sind die Gründe dafür?

Es ist deutlich geworden, dass die Ankündigung einer Zeitenwende und deren Umsetzung zwei unterschiedliche Dinge sind. Ich würde im Übrigen weniger von einer Aufrüstung der Bundeswehr sprechen, als davon, dass nunmehr die notwendige Ausrüstung der Bundeswehr erfolgen soll, die schon lange überfällig ist.

Zu Beginn des Krieges konnte man eine große Einigkeit der westlichen Partnerinnen und Partner beobachten. In jüngerer Zeit hingegen hat man als Außenstehender und auf Grundlage von Medienberichten eher den Eindruck, dass die Bundesrepublik insbesondere bei Waffenlieferungen erst der Getriebene war und nun bei der gemeinschaftlichen Lieferung von modernen Leopard-Kampfpanzern zum Treiber wurde. Wie ordnen Sie diese Dynamiken ein?

Zunächst ist die Geschlossenheit von EU und NATO durchaus bemerkenswert. Damit war nicht unbedingt zu rechnen. Dies ist nicht zuletzt ein Verdienst der US-amerikanischen Diplomatie der Administration von Joe Biden. Mit Blick auf Deutschland: Hier hatte man in der Tat lange den Eindruck, dass die Bundesregierung Waffenlieferungen immer nur unter Druck zugestimmt hat. Das Muster war häufig, dass man die Lieferung bestimmter Waffen zunächst ausschloss, nur um diese dann doch zur Verfügung zu stellen, wenn der internationale Druck zu groß wurde. Auch wenn das mit Blick auf den beachtlichen Umfang der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine – Deutschland steht hinter den USA und dem Vereinigten Königreich diesbezüglich immerhin an dritter Stelle – nicht immer ganz fair war.

Wie hat sich das auf das internationale Ansehen der Bundesrepublik ausgewirkt?

Dieser Eindruck, dass sich Deutschland nur unter Druck in dieser bedeutenden Sache bewegt, hat der internationalen Reputation geschadet und ist zumindest teilweise auf eine verfehlte Kommunikationspolitik der Bundesregierung zurückzuführen. In der Diskussion um die Leopard-Kampfpanzer haben sich die Verhältnisse etwas verschoben und die Bundesregierung, nicht zuletzt mit dem neuen Verteidigungsminister, gibt insgesamt ein entschlosseneres Bild ab.

Bleiben wir noch kurz beim Thema Waffenlieferungen: Wie Sie schon sagten, wurde der Bundesregierung im Ausland – und auch zu Hause – lange Zögerlichkeit vorgeworfen. Nun mehren sich aber auch Stimmen, die ein geschicktes Agieren des Kanzlers darin sehen, dass er insbesondere die USA in dieser Sache einbinden möchte, um Deutschland aus dem Fadenkreuz zu nehmen. Die Vereinigten Staaten schienen davon wenig begeistert zu sein. Ist das eher politische Inszenierung, die wir hier sehen, oder tatsächliche Hinweise auf Spannungen zwischen den Partnerinnen und Partnern – insbesondere zwischen Deutschland, Frankreich und den USA?

Eine Grundlinie der Bundesregierung war von Anfang an: keine deutschen Alleingänge. Dies entspricht der multilateralen Orientierung der deutschen Außenpolitik und ist daher nicht überraschend. In diesem konkreten Fall hat die Überlegung, dass sich Deutschland gegenüber Russland nicht allein exponieren sollte, sicher auch eine wichtige Rolle gespielt. Ich denke, dies wird von Deutschlands Partnerinnen und Partnern verstanden und ist kein Ausdruck von Spannungen im westlichen Bündnis.

Wie haben sich nach Ihrer Beobachtung generell die Beziehungen zwischen den westlichen Partnerinnen und Partner entwickelt? Ist man durch die Unterstützung der Ukraine eher zusammengewachsen – oder entzweit man sich zusehends?

Bislang sind die transatlantischen Partner angesichts des russischen Angriffskrieges – mit einzelnen Ausnahmen wie Ungarn oder dem türkischen Widerstand gegen einen NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands – eher zusammengewachsen. Mit Blick auf die EU gilt dies zum Beispiel für die beachtlichen Sanktionspakete. Der Wert der NATO ist manchen Mitgliedern erst in dieser Bedrohungslage wieder bewusstgeworden. Wichtig ist allerdings, dass dies auch so bleibt. Hier habe ich angesichts der innenpolitischen Diskussionen in manchen westlichen Staaten, einschließlich Deutschlands, durchaus Sorge. Der Bundesrepublik kommt in diesem Zusammenhang eine besondere Verantwortung zu, da die russische Diplomatie offenkundig versucht, Deutschland aus dem westlichen Bündnis der Unterstützer der Ukraine herauszulösen. Dies muss die Bundesregierung unbedingt verhindern.

Blicken wir auf den außenpolitischen Kurs der Ukraine: Hier hat zu Beginn des Krieges vor allem der damalige ukrainische Botschafter Andrij Melnyk mit – sagen wir mal eher unüblichen diplomatischen Äußerungen – von sich reden gemacht. Waren seine Einlassungen der Lage angemessen?

Die Rhetorik des damaligen Botschafters mag ungewöhnlich gewesen sein. Die Lage war und ist es aber auch. Schließlich befindet sich die Ukraine in einer existentiellen Bedrohungslage. Daher sollte man Verständnis haben, wenn das eine oder andere Wort zuweilen über das Ziel hinausgeschossen ist. Zudem hatte Andrij Melnyk mit seiner Bestandsaufnahme recht: Die Bundesregierung agierte zunächst nur unter Druck. Zu diesem Druck hat der Botschafter erfolgreich beigetragen und ich denke, er hat der deutschen Öffentlichkeit sehr klar die Dringlichkeit vor Augen geführt, dass Deutschland unzweideutig an der Seite der Ukraine steht.

Wie bewerten Sie generell das außenpolitische Agieren der Ukraine? Ein wesentliches Ziel der Außenpolitik von Präsident Selenskyj ist ein schneller Beitritt der Ukraine zur NATO und zur EU. Wie realistisch ist das?

Das außenpolitische Agieren der Ukraine und insbesondere von Präsident Selenskyi ist außerordentlich geschickt. Dies hat schon damit begonnen, dass Selenskyi in den ersten Kriegstagen in Kyiv geblieben ist und Angebote ausgeschlagen hat, ins Exil zu gehen.

Er sagte damals sinngemäß: Ich benötige keine Mitfahrgelegenheit …

… sondern Waffen. Die ukrainische Diplomatie, einschließlich der Public Diplomacy, ist seit Beginn des Krieges sehr effektiv darin, die Unterstützung westlicher Regierungen und Öffentlichkeiten zu mobilisieren. Allerdings erwarte ich trotzdem keinen raschen Beitritt der Ukraine zu NATO und EU.

Was spricht dagegen?

Die EU hat bereits deutlich gemacht, dass für eine Mitgliedschaft noch zahlreiche Reformen, zum Beispiel im Bereich der Korruptionsbekämpfung, erforderlich sind. Ob es überhaupt zu einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine kommt, ist unklar und hängt auch vom weiteren Kriegsverlauf ab. Wichtiger für den Moment ist aber das klare Signal von EU und NATO, die Ukraine weiterhin mit finanziellen und militärischen Mitteln zu unterstützen.

Kürzlich gelang US-Präsident Biden ein Coup, indem er in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Kyiv reiste, um Präsident Selenskyi und der Ukraine den Bestand der USA zu versichern. In Kombination mit seinem Spaziergang durch die Stadt, während die Luftabwehr-Sirenen heulten, war das ein sehr starkes Zeichen – auch in Richtung Putin. Zu Hause sieht es für Biden nach den aktuellen Umfragen hingegen weniger gut aus. Wie lange können die USA ihren Ukraine-Kurs halten?

Die Unterstützung der Ukraine ist – neben der Chinapolitik – eines der sehr wenigen Themen, bei dem im Kongress, abgesehen von einzelnen Stimmen, ein parteiübergreifender Konsens besteht. Für viele Kongressmitglieder hat diese Frage eine besondere Priorität. Ich gehe daher davon aus, dass die USA den Kurs halten werden. Ob Biden von seiner starken Ukraine-Politik auch innenpolitisch profitieren wird, ist allerdings eine andere Frage. Bislang sieht es nicht danach aus.

Lassen Sie uns diesen Aspekt kurz vertiefen: Sie waren kürzlich für einen längeren Forschungsaufenthalt in den USA. Entspricht die Stimmung in den Umfragen nach ihrer Wahrnehmung der tatsächlichen Dynamik im Land?

Die USA sind politisch ein gespaltenes Land. Die Anhängerinnen und Anhänger der Demokraten haben ein überwiegend positives Bild von Biden, die Anhängerinnen und Anhänger der Republikaner kommen zu einem sehr negativen Urteil. Die Präsidentschaftswahl 2024 wird sich, wie bereits 2020, in einigen wenigen sogenannten „swing states“ entscheiden. In welche Richtung das Pendel letztlich ausschlägt, ist angesichts der sehr knappen Mehrheitsverhältnisse und der verfestigten Lagerbildung nicht absehbar. Die gilt umso mehr, als dass noch nicht einmal klar ist, wer die beiden Präsidentschaftskandidatinnen und -kandidaten sein werden.

Schauen wir abschließend noch auf das Verhältnis des Westens zu China. Was auffällt ist, dass sich China mit öffentlicher Kritik und diplomatischen Noten gegenüber Russland auffallend zurückhält. Viel wahrscheinlicher scheint es zu sein, dass China Russland in Zukunft mit Waffenlieferungen unterstützen könnte. Sehen wir hier die nächste Stufe im wesentlich größeren Konflikt – den zwischen den USA und China?

China positioniert sich in diesem Krieg sehr geschickt. Weder bezieht es öffentlich Stellung gegen Russland, noch unterstützt es Russland – bisher – offen mit Waffen. Es ist absehbar, dass ein durch den Krieg geschwächtes und isoliertes Russland stärker von China abhängig wird und in Zentralasien an Einfluss verliert. Dies stärkt die geopolitische Position Chinas – auch und gerade im Systemkonflikt mit den USA.

In diesem Zusammenhang ist ein weiterer schwelender Konflikt der um die Unabhängigkeit Taiwans. Nun ist die aktuelle Situation zwischen Russland und der Ukraine eine ganz andere, aber die Grundkonstellation – ein großes Reich beansprucht das Land des kleineren Nachbarn – durchaus vergleichbar. Wird diese mögliche nächste Krise vom Westen gesehen und sendet er die richtigen Signale zur Abschreckung an China?

Die Situation in Taiwan steht gerade in den USA ganz oben auf der außenpolitischen Agenda. Die Befürchtung war, dass China den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine als Gelegenheit nutzt, militärisch gegen Taiwan vorzugehen. Dies ist nicht passiert und es gibt momentan auch keine Anzeichen dafür. Das hat möglicherweise auch mit der starken Abschreckungspolitik der USA zu tun. China war ebenso überrascht über das geschlossene und entschlossene Auftreten „des Westens“ in diesem Krieg wie Russland. Ich erwarte daher kurz- und mittelfristig keine militärische Eskalation des Taiwan-Konflikts. Langfristig ist dies allerdings ein Szenario, das nicht auszuschließen ist.

Herr Professor Oppermann, vielen Dank für das Gespräch.

Matthias Fejes
24.02.2023

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