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Europas Versagen

Prof. Dr. Birgit Glorius, Inhaberin der Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung, spricht im Interview über die Situation im Flüchtlingscamp Moria auf der Insel Lesbos und das europäische Asylsystem

Das Lager Moria ist zum Symbol einer gescheiterten europäischen Asylpolitik geworden. Die Coronapandemie hat die Lage für die Flüchtlinge zusätzlich verschärft. Wie geht es weiter mit den Menschen dort? Darüber sprach Stephan Lorenz (Freie Presse) mit Prof. Dr. Birgit Glorius, Inhaberin der Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung an der Techischen Universität Chemnitz, die in den vergangenen Jahren intensiv zum Gemeinsamen Europäischen Asylsystems im Rahmen des Horizon2020-Projekts CEASEVAL geforscht hat.

Frau Glorius, wie beurteilen Sie die Situation im Flüchtlingslager Moria?

Das ist der Höhepunkt einer jahrelangen Tragödie, die sich auf den griechischen Inseln abspielt. Aus europäischer Sicht ist das eigentlich nicht akzeptabel. Die Tatsache, dass das Lager jetzt abgebrannt ist, verändert die Situation für die Leute im Grunde nicht. Sie lebten dort schon vorher unter katastrophalen Bedingungen. Das muss man sich immer vor Augen halten: Moria war als EU-Hotspot gedacht, wo die Flüchtlinge registriert und auf eine Verteilung vorbereitet werden sollten. Schnelle Verfahren? Manche Flüchtlinge leben schon seit Jahren dort – auch solche, deren Verfahren schon durch sind. In der EU hätten da längst die Alarmglocken läuten müssen.

Warum ist das nicht geschehen?

Es hat wohl auch mit der peripheren Lage der Inseln zu tun. So konnte die Illusion aufrecht erhalten werden, dass immer weniger Flüchtlinge kommen. Für Kerneuropa mag das stimmen, aber die Menschen kommen immer noch – über die gefährliche Mittelmeerroute und auch über den Balkan, wo sie dann in Bosnien festsitzen. Der EU-Türkei-Deal ist nur deshalb zustande gekommen, weil Griechenland dazu auserkoren wurde, eine harte EU-Außengrenze zu sein. Die griechischen Inseln werden von Kerneuropa in dieser Frage nicht als Teil Europas angesehen. Flüchtlinge werden an die Peripherie gedrängt, wo sie und die Griechen sich selbst überlassen sind.

Ist das, was sich auf den Inseln abspielt, nicht auch ein bewusstes politisches Signal: Die Zustände dort sollen abschrecken, damit keine Sogwirkung für andere Menschen entsteht, sich nach Europa aufzumachen. Wie sehen Sie das?

Ja, das glaube ich auch. Es wird natürlich so nicht offiziell kommuniziert. Wir wissen aber, dass das im öffentlichen Diskurs eine funktionierende Argumentation ist. Nach dem Motto: Wenn wir es besser machen, kommen die Leute – wenn es so schlimm bleibt, kommen sie nicht. Über Bilder und Botschaften gerade in sozialen Netzwerken kann es solche Effekte geben, aber in der Masse wissen wir nichts über eine vermeintliche Sogwirkung. Dazu fehlen Studien. Das Schlimme ist, dass diese Argumente die Debatte um eine dringend notwendige Reform des europäischen Asylsystems prägen.

Anfang des Jahres, vor Corona, gab es doch Lösungsansätze?

Damals hatte man sich in der Tat mit Moria befasst und einen Kompromiss unter den willigen EU-Staaten gefunden, Kontingente aufzunehmen. Es sollte um Kinder, Kranke, alleinstehende Frauen und Familien gehen. Das waren einige Tausend, die verteilt werden sollten. Aber noch nicht einmal die mäßigen Willensbekundungen sind umgesetzt worden. Dann kam Corona.

Aber zum Beispiel sind in Deutschland doch einige Städte zur Aufnahme bereit?

Es gibt zum einen Teile der Zivilbevölkerung, die sich sehr engagieren, und zum anderen ein Netzwerk von Städten, die im Rahmen von Sonderprogrammen Flüchtlingen helfen wollen. Das wird aber auf Bundesebene nicht weiter betrieben. Das hat auch mit der Systematik der Asylpolitik zu tun. Jede nationale Regierung hat die Souveränität darüber, wer auf ihrem Staatsgebiet leben darf und wer nicht. Das lässt sich auf nationaler Ebene nach unten bis zu den Kommunen niemand wegnehmen – und schon gar nicht von einer übergeordneten europäischen Ebene aus der Hand nehmen.

Daher wird am Dublin-Prinzip festgehalten, nach dem jeder Flüchtling dort den Asylantrag stellen muss, wo er erstmals auf EU-Territorium gelangt ist?

Ja, das führt dazu, dass Italien und Griechenland völlig überlastet sind. Darüber gibt es in Brüssel seit Jahren keine wirklich ernsthafte Debatte.

Inwieweit verschärft die Coronapandemie die Lage der Flüchtlinge zusätzlich?

Erstens dauern die Asylverfahren fast überall noch länger als sonst, weil Institutionen überwiegend im Homeoffice gearbeitet haben oder noch arbeiten. In Griechenland etwa sind die Verfahren ganz ausgesetzt worden. Corona verschärft zweitens die Situation in den Lagern auf existenzielle Weise. Viele Flüchtlinge sind in einem schlechten gesundheitlichen Allgemeinzustand, die hygienischen Bedingungen sind katastrophal. Drittens stellt die Pandemie Mobilität unter Generalverdacht. Die Angstmacherei, Flüchtlinge würden seltene Krankheiten mitbringen oder die Coronapandemie verschärfen, wird zunehmen.

Es hat aber doch auch Auswirkungen auf die Integration der hier lebenden Flüchtlinge?

Ja, es gibt Zahlen über die Effekte der Pandemie auf dem Arbeitsmarkt. Bis zum Ausbruch von Corona waren die Zahlen ganz gut: Flüchtlinge konnten meist in den weniger qualifizierten Bereichen Arbeit finden, meist bei Zeitarbeitsfirmen. Darunter waren Jobs im Gaststättengewerbe oder in der Reinigungsbranche. Diese Arbeiten litten aber besonders unter den Restriktionen. Daher stieg die Arbeitslosigkeit unter den Geflüchteten zuletzt wieder. Auch das Homeschooling traf vor allem sozial benachteiligte Gruppen, zu denen Flüchtlingskinder meist gehören.

Was muss sich in Europa nach der Moria-Katastrophe ändern?

Die Flüchtlingskrise ist ja nur eine von vielen Krisen der Europäischen Union. Unterm Strich ist sie vor allem eine Wirtschaftsgemeinschaft. Weil sich aber spätestens mit der Finanzkrise 2008 die wirtschaftlichen Bedingungen verschlechtert haben, kommt auch auf politischer Ebene nichts mehr voran. Wir hatten hier an der TU Chemnitz ein Projekt unter politischen Akteuren auf nationaler und europäischer Ebene durchgeführt: Die waren einhellig der Meinung, dass man an die Dublin-Regeln ran müsste, wenn man die europäische Asylarchitektur verändern will. Dabei sollte künftig die Verteilung der Verantwortung besser geregelt sein: Wie kann man mit den Staaten vorangehen, die willig sind, Flüchtlinge aufzunehmen, und wie kann man andere zu Ausgleichszahlungen zwingen?

Und was nützt das alles den Menschen in Moria?

Politische Prozesse dauern eben lange. In Moria aber haben wir keine Zeit: Daher sollte das Lager jetzt evakuiert werden und die obdachlosen Menschen auf andere europäische Länder verteilt werden. Das kann Griechenland allein nicht schaffen.

Weitere Informationen erteilt Prof. Dr. Birgit Glorius, Telefon 0371 531-33435, E-Mail birgit.glorius@phil.tu-chemnitz.de.

Hinweis: Unter der Rubrik "Hintergrund" veröffentlichte die "Freie Presse" in der Ausgabe vom 11. September 2020 dieses Interview mit Prof. Dr. Birgit Glorius. Unter dieser Rubrik oder unter dem Motto "Einspruch - Standpunkte zum Streiten" sollen auch weiterhin verstärkt kontroverse Meinungen aus Wissenschaft und Gesellschaft öffentlich gemacht werden und die Diskussion anregen. Angehörige der TU Chemnitz, die sich hier auch gern einmal fundiert äußern möchten, sind dazu eingeladen. Kontakt: chefredaktion@freiepresse.de  und/oder mario.steinebach@verwaltung.tu-chemnitz.de.

Multimedia: In einer Ausgabe der Sendereihe "Rabiat", die bereits am 18. Mai 2020 in der ARD ausgestrahlt wurde und sich mit der katastrophalen Flüchtlingssituation auf der griechischen Insel Lesbos und der europäischen Asylpolitik beschäftigt, kommt auch  Prof. Dr. Birgit Glorius, zu Wort. Der Beitrag ist in der ARD Mediathek verfügbar.

Mario Steinebach
11.09.2020

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