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Pressemitteilung vom 03.01.2002

Gute Schüler fürchten den Strebervorwurf ihrer Mitschüler

Gute Schüler fürchten den Strebervorwurf ihrer Mitschüler
Chemnitzer Studie zeigt: Vor allem Mädchen vermeiden gute Leistungen in der Schule

Die internationale Schulstudie Pisa (Programme for International Student Assessment) hat hierzulande nicht nur Bildungspolitikern den Atem stocken lassen: Deutschland liegt im Ländervergleich durchweg auf den hinteren Rängen - sowohl bei der Lesefähigkeit der Schüler als auch bei der mathematischen und der naturwissenschaftlichen Grundbildung. Die Untersuchung zeigte zum Beispiel, dass fast jeder vierte 15-Jährige in Deutschland kaum lesen kann und nicht besser rechnet als ein Grundschüler.

Soziologen der Technischen Universität Chemnitz liefern nun eine mögliche Begründung für die vergleichsweise schlechten Ergebnisse deutscher Schüler, die über das bislang Diskutierte hinausreicht: Es ist die Angst, von der Klasse als Streber diffamiert zu werden, die besonders in Deutschland dazu führt, dass gute Schüler und insbesondere leistungsstarke Mädchen nicht ihr vorhandenes Leistungspotenzial ausschöpfen und auf Dauer leistungsschwächer werden. In der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) geförderten Untersuchung "Streber versus Nerd (entspricht dem neu-deutschen 'Freak') - Zur Kultur- und Geschlechtsspezifik der Sanktionierung guter mathematisch-naturwissenschaftlicher Schulleistungen bei Jugendlichen in Deutschland und Nordamerika", die im Rahmen des DFG-Schwerpunktprogramms "Die Bildungsqualität von Schule" (BIQUA) durchgeführt wird, gehen Prof. Dr. Klaus Boehnke, Inhaber der Chemnitzer Professur für Sozialisationsforschung und Empirische Sozialforschung, und seine wissenschaftliche Mitarbeiterin Anna-Katharina Pelkner der Frage nach, warum dieser Streber-Vorwurf gerade in Deutschland so verbreitet ist. Denn anders als in Nordamerika, wo gute Schulleistungen die Anerkennung in der Klasse erhöhten, würden gute Schulleistungen in deutschen Klassen eher vermieden, um die Anerkennung der Klasse zu erhalten, so die Chemnitzer Wissenschaftler in einem ersten Resümee.

Dazu wurden 650 deutsche, 500 kanadische und darüber hinaus 400 israelische Schülerinnen und Schüler befragt. Obwohl diese Hauptuntersuchung noch nicht abgeschlossen ist und die Vergleichsdaten aus Nordamerika (Erhebung im Frühjahr 2002) und Israel bislang fehlen, zeigt die gerade abgeschlossene Auswertung zweier Pilotstudien vom Sommer 2000, dass hierzulande herausragende Leistungen im Mathematikunterricht vor allem von begabten Mädchen eher vermieden werden, um nicht als "Streber" oder "Schleimer" zu gelten. In der ersten Pilotstudie wurden 196 Chemnitzer Schülerinnen und Schüler der achten Klassen mittels Fragebogen aufgefordert, ein Ranking der am häufigsten verwendeten, gehörten und besonders gefürchteten stereotypen Bezeichnungen zu erstellen. Die Befragung führten Mitschüler im Rahmen eines Uni-Praktikums durch. Dabei kam heraus, dass ein Drittel der benutzten Stereotypen im direkten Zusammenhang zu den Leistungen im Matheunterricht stehen: Die Auswertung dieses Rankings zeigte, dass die Begriffe "Streber", "Klugscheißer" und "vorlaut" besonders häufig verwendet werden und überaus angstbesetzt sind. Da zudem auch die letzte Mathematiknote der Schüler erfragt wurde, konnte das Chemnitzer Soziologenteam in einem Vergleich mit dem individuellen Stereotypen-Ranking ermitteln, dass die Angst davor, als Streber diffamiert zu werden, umso mehr steigt, je besser die Zensur ist.

Besonders die leistungsstarken Mädchen leiden unter diesem Streber-Vorwurf, obwohl sich die Noten im Matheunterricht zwischen Jungen und Mädchen objektiv kaum unterscheiden. Doch dieser erste Eindruck täuscht, zeigt die Chemnitzer Untersuchung: "Berücksichtigt man statistisch, dass bei Mädchen ein stärkerer Zusammenhang zwischen der Angst vor dem Strebervorwurf und der Mathematiknote besteht und korrigiert die Notenunterschiede um diesen Effekt, so zeigt sich, dass Mädchen nach dieser Korrektur bereits schwach signifikant bessere Mathematiknoten als Jungen haben. Würden Mädchen zudem mehr Vertrauen in die eigenen Mathematikleistungen haben, hätten sie hoch signifikant bessere Mathematiknoten als Jungen", schlussfolgern die Wissenschaftler. Auf den Punkt gebracht heißt das: Mädchen könnten im Matheunterricht viel besser sein als Jungen, aber sie haben zu wenig Selbstvertrauen und fürchten sich stärker davor, als Streber zu gelten. Bei den Jungen spiegelt sich das objektive Leistungsvermögen dagegen viel eher in der tatsächlich erreichten Note wider - Streberangst ist dabei nicht so ausgeprägt.

In der zweiten Pilotstudie wurden 194 weitere Chemnitzer Schülerinnen und Schüler der achten Klassen in einem weiteren Fragebogen aufgefordert, Aussagen über Streber nach eigenem Empfinden in die richtige Reihenfolge zu bringen. Die Auswertung dieses Rankings zeigte, dass Jungen und Mädchen unter einem Streber in etwa dasselbe verstehen. Ganz oben landeten jeweils die Aussagen "Streber haben es viel schwerer, Freunde zu finden", "Streber wollen etwas Besseres sein als ihre Mitschüler" und "Mit Strebern will ich nichts zu tun haben".

Erste Ergebnisse der international vergleichenden Hauptuntersuchung werden im April 2002 erwartet.

Weitere Informationen gibt Prof. Dr. Klaus Boehnke, Professur für Sozialisationsforschung und Empirische Sozialforschung, unter Telefon (03 71) 531 39 25, und Dipl.-Soz. Anna-Katharina Pelkner, unter Telefon (03 71) 531 39 26. Die Professur im Internet: http://www.tu-chemnitz.de/phil/soziologie/boehnke/index.htm