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„Migrations- und Integrationspolitik sollte sich stärker auf das Ermöglichen konzentrieren“

Prof. Dr. Birgit Glorius von der TU Chemnitz ist Expertin für Migration und das europäische Asylsystem – Im Interview gibt sie Impulse für eine künftige Migrationspolitik, schaut auf die Situation an der Grenze zu Polen und spricht über Chancen der Einwanderung

Prof. Dr. Birgit Glorius ist Inhaberin der Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung der Technischen Universität Chemnitz. Sie hat zudem die Leitung des wissenschaftlichen Beirats des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) inne. Der Beirat berät und unterstützt das Forschungszentrum Migration, Integration und Asyl des BAMF in Nürnberg. Erst kürzlich hat Birgit Glorius ihre Ergebnisse aus einem bundesweiten Projekt zur Integration von Geflüchteten in ländlichen Regionen vorgelegt.

Frau Glorius, die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD, Grünen und FDP sind in vollem Gange. Ein Thema, das nach wie vor ungelöst ist, ist der Umgang mit der sogenannten Fluchtmigration. Die letzte Bundesregierung hatte in ihrem Koalitionsvertrag eine recht rigide Migrationspolitik beschlossen; u. a. hatte man vereinbart, dass jährlich maximal 180.000 bis 220.000 Schutzsuchende nach Deutschland kommen dürfen. Was erwarten Sie von der nächsten Bundesregierung?

Die angedeuteten Höchstwerte für die jährliche Aufnahme geflüchteter Menschen habe ich stets als politische Rhetorik verstanden. Praktisch lässt sich das ja kaum umsetzen, da man Menschen auf der Flucht nicht am Grenzübertritt hindern darf – das verstößt gegen völkerrechtliche Grundsätze, die auch in der Genfer Flüchtlingskonvention so verankert sind. Interessanter und auch zielführender fände ich den umgekehrten Gedanken: eine Aussage zur Aufnahme von jährlichen Mindestkontingenten an Geflüchteten über Resettlement- und Relocation-Programme, das heißt auf geordnetem Wege und unter Vermeidung von Lebensgefahr auf dem Weg nach Deutschland. Generell würde ich mir eine offenere Haltung zum Thema Zuwanderung und Diversität wünschen und hoffe, dass entsprechende Akzente im Koalitionsvertrag gesetzt werden.

Sie leiten den wissenschaftlichen Beirat des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge und versammeln damit wissenschaftliche Expertise in diesem Bereich. Inwiefern können Sie und Ihre Kolleginnen und Kollegen des Beirats bei Fragen zur Migration die Koalitionärinnen und Koalitionäre beraten?

Wir stehen den Koalitionären stets und gern für Beratungen zur Verfügung. Nur ist es leider so, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eher selten proaktiv von Politikerinnen und Politikern angesprochen werden. Und der umgekehrte Weg ist extrem mühsam und erfordert sehr gute persönliche Verbindungen in die Parteien und die „Berliner Republik“ hinein.

Aktuell machen Migrantinnen und Migranten Schlagzeilen, die vermehrt über Polen einreisen. Können Sie einordnen, was dort gerade passiert?     

In den vergangenen Jahren haben sich Fluchtrouten nach und durch Europa immer wieder in Reaktion auf äußere Gegebenheiten verändert. Die derzeitige Fluchtmigration nach Polen über Belarus ist insofern besonders, als der Staat Weißrussland offensichtlich die Einreise von Fluchtmigrantinnen und -migranten und deren Weiterreise an die polnische Grenze aktiv unterstützt. Man kann dieses Vorgehen als politische Erpressung bezeichnen, da es nun Polen, beziehungsweise die gesamte EU, zum Reagieren zwingt. Einerseits muss die EU an dieser Außengrenze ihre „Grenzkompetenz“ zeigen, andererseits kann sie keine humanitären Katastrophen tolerieren. Grundsätzlich gilt auch hier das in der Genfer Flüchtlingskonvention verankerte Prinzip des Non-Refoulement, das heißt der Nicht-Zurückweisung Schutzsuchender. Und natürlich müssen ankommende Geflüchtete umgehend mit dem Notwendigen versorgt werden. Mauern oder Zäune zu bauen, löst das Problem jedenfalls nicht.

Sie haben unter anderem zum gemeinsamen europäischen Asylsystem geforscht. Allerdings ist die EU in der Vergangenheit hier immer wieder in die Kritik geraten. Da sind viele Länder, die kein Interesse an einer Unterstützung flüchtender Menschen habe, da ist der Deal mit der Türkei, der die EU angreifbar macht, da sind auch die sogenannten Pushbacks. Gleichzeitig könnten wir in vielen Bereichen wie der Pflege – auch das hat die Pandemie gezeigt – nach wie vor qualifizierte Menschen sehr gut gebrauchen. Wie sollte sich die künftige deutsche Migrationspolitik hier aufstellen?

Das Gemeinsame Europäische Asylsystem regelt ja lediglich die humanitäre Migration, während das Gesamtfeld der Migration viel breiter ist. Europa ist auf Migration angewiesen, um seinen Arbeitskräftebedarf zu sichern. Dabei steht man zueinander in Konkurrenz, wobei Deutschland mit seiner vergleichsweise stabilen und prosperierenden Wirtschaft stärker in der Gunst von Migrantinnen und Migranten steht, als andere EU-Staaten – vor allem auch nach dem Brexit. Migrationspolitisch werden die Bereiche Fluchtmigration und Arbeitsmigration streng getrennt, während sich in der Realität vielfältige Schnittmengen ergeben. De facto handelt es sich bei vielen Migrationen um sogenannte „mixed migration“, das heißt eine Gemengelage von Motiven. Eine intelligente Migrationspolitik sollte auf diese Tatsache reagieren und entsprechende Übergangsmöglichkeiten schaffen. Beispiele gibt es ja bereits, etwa in Form wissenschaftlicher Visa für verfolgte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die auf diesem Wege zunächst nicht ins Asylverfahren müssen, oder der faktische „Spurwechsel“, der es geduldeten Menschen bei nachweisbar erfolgreicher Arbeitsmarktintegration ermöglicht, eine reguläre Aufenthaltserlaubnis zu erwerben. Hier wurden mit dem Integrationsgesetz 2018 schon erste Weichen gestellt. Das Problem ist nur, dass dies für geflüchtete Menschen mit langen Phasen der Unsicherheit verbunden ist. Hier gleich zu Beginn Wege aufzuzeigen und die entsprechenden Vorbereitungen – zum Beispiel in Form von Sprachkursen, Berufsorientierung etc. – allen Geflüchteten anzubieten, würde die Integration beschleunigen. Generell gilt: Migrations- und damit auch Integrationspolitik sollte sich stärker auf das Ermöglichen konzentrieren, anstatt alle Kraft in das Verhindern zu investieren.

Seit 2020 gibt es das sogenannte „Fachkräfteeinwanderungsgesetz“. Ist das Gesetz aus Ihrer Sicht ausreichend, um zum Beispiel auch Geflüchtete mit großem Potential in den Arbeitsmarkt zu integrieren?

Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem echten Einwanderungsland. Gut ist, dass man sich im Vergleich zum Zuwanderungsgesetz von 2004 von der Fokussierung auf Hochqualifizierte und Selbständige verabschiedet und die Einwanderungsmöglichkeiten damit verbreitert hat. Das entspricht auch den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarktes, der inzwischen auf allen Qualifikationsniveaus Arbeitskräfteengpässe aufweist. Ob das Gesetz so funktioniert, wie man es sich vorstellt, wird gerade durch das Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge evaluiert. Ich könnte mir vorstellen, dass die Frage der Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen noch nicht ausreichend gelöst ist. Auch eine längerfristige Begleitung von Arbeitsmigrantinnen und -migranten und ihren Arbeitgeberinnen und -gebern bei der Arbeitsmarktintegration, etwa durch Mentoring und Beratung, könnte ich mir noch als weitere Optimierungsmöglichkeit vorstellen. Doch der Weg ist der richtige.

Hinsichtlich einer raschen Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt sollten die entsprechenden Gesetzgebungen zur humanitären und Arbeitsmigration durchlässiger gemacht werden, etwa durch die Benennung von Kriterien für einen Spurwechsel – das heißt einen Übergang von der fluchtbezogenen zur arbeitsmarktbezogenen Aufenthaltsgenehmigung. Schließlich wünschen sich geflüchtete Menschen nicht nur den Schutz vor Verfolgung, sondern die Möglichkeit, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Hier die Möglichkeiten des Arbeitsmarktzugangs und die Schritte dorthin – etwa durch Spracherwerb und Nachqualifizierung – sehr früh im Verfahren aufzuzeigen und zu vermitteln, dürfte ein guter Weg sein, um die Potenziale von Geflüchteten aufzuschließen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Matthias Fejes
09.11.2021

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