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Je kleiner die Kommune, desto höher die Anpassungserwartung an Geflüchtete

Chemnitzer Forscherinnen legen Ergebnisse aus bundesweitem Projekt zur Integration von Geflüchteten in ländlichen Regionen vor – das Team von Prof. Dr. Birgit Glorius nahm dabei insbesondere die Rolle der Zivilgesellschaft und der Lokalbevölkerung in den Blick – auch in zwei sächsischen Landkreisen

Wenn in der breiten Öffentlichkeit über die Integration von Geflüchteten gesprochen wird, sind kleine Städte oder Dörfer selten im Fokus, jedoch wurden mit den zunehmenden Zahlen von Geflüchteten um den Sommer 2015 vermehrt auch ländliche Räume Aufnahmeorte für Asylsuchende. Welche Bedingungen brauchen Geflüchtete dort zum Ankommen? Dies war in den letzten drei Jahren eine zentrale Frage des Verbundforschungsprojektes „Zukunft für Geflüchtete in ländlichen Räumen“, das vom Johann Heinrich von Thünen-Institut, Bundesforschungsinstitut für Ländliche Räume, Wald und Fischerei, gemeinsam mit der Technischen Universität  Chemnitz, der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg und der Universität Hildesheim durchgeführt wurde. Näher untersucht wurden Kommunen in acht Landkreisen in Bayern, Hessen, Niedersachsen und Sachsen. Dabei wurden Interviews mit Geflüchteten sowie Gespräche mit Expertinnen und Experten in Landkreisen und Gemeinden geführt. Hinzu kamen unter anderem eine Bevölkerungsbefragung in vierzig Kommunen, Medienanalysen sowie die Auswertung umfangreicher statistischer Datensammlungen. „Unsere Ergebnisse tragen zum Schließen einer Forschungslücke bei, denn lange Zeit standen ländliche Räume kaum im Fokus der Migrationsforschung“, Prof. Dr. Birgit Glorius, Inhaberin der Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung an der TU Chemnitz. Sie nahm mit ihrem Team innerhalb des Projekts insbesondere die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in den Blick, die für Integration von Geflüchteten nötig sind. Das Projekt wurde im Rahmen des Bundesprogramms für ländliche Entwicklung durch das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) gefördert.

Zivilgesellschaft als wesentliche Ressource für eine erfolgreiche Integration

„Damit Geflüchtete auf dem Land bleiben, müssen nicht nur die Infrastruktur, Arbeitsplätze, passende Wohnungen oder erreichbare Sprachkurse gegeben sein. Auch die Zivilgesellschaft, etwa Vereinsstrukturen, tragen wesentlich zu einem positiven Integrationsverlauf und einer bewussten Bleibeentscheidung bei“, so ein Fazit, das Glorius zieht. Auch die Aufnahmebereitschaft der lokalen Bevölkerung sei eine wesentliche Voraussetzung für das soziale Wohlbefinden und ein gelingendes Ankommen der Geflüchteten vor Ort, resümiert die Humangeographin der TU Chemnitz. Es müsse nicht nur eine strukturelle Integration, etwa in den Arbeitsmarkt, stattfinden, sondern auch eine soziale Offenheit gegenüber Geflüchteten herrschen: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Bevölkerung in den untersuchten ländlichen Regionen deutlich weniger Erfahrung im Kontakt mit Geflüchteten und Migrantinnen und Migranten hat als im bundesweiten Durchschnitt. Eine zentrale Erkenntnis ist: In ländlichen Regionen mit geringer Diversität fehlt schlichtweg der Kontakt zu Migrantinnen bzw. Migranten und somit auch die positiven Erfahrungen mit Integration“, so Glorius. 

Bei den Untersuchungen standen daher die ländlichen Besonderheiten der lokalen Gemeinschaft im Fokus: „Jeder kennt hier jeden – das haben wir tatsächlich häufig während unserer Forschungen gehört. Da bedeutet natürlich auch, dass die Geflüchteten besonders in sehr kleinen Kommunen oft starken Erwartungen ausgesetzt sind, sich anzupassen“, so Hanne Schneider, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt. Die Zurückhaltung gegenüber Migrantinnen und Migranten ist in den untersuchten Regionen im Durchschnitt höher als bundesweit. Eine wichtige Funktion kommt dabei auch den Vereinen und Initiativen vor Ort zu: Diese können eine Brückenbau-Funktion zwischen der Lokalbevölkerung und Neuzugezogenen einnehmen.

Herausforderungen und migrantisches Engagement insbesondere in Sachsen

Besonders in den beiden sächsischen Untersuchungslandkreisen Bautzen und Nordsachsen war der Anteil der Befragten, die regelmäßig Kontakt zu Ausländerinnen und Ausländern hatten, gering. Rassistische Einstellungsmuster ließen sich hier häufiger finden, als in den anderen untersuchten ländlichen Landkreisen, das sei eine Herausforderung für viele Geflüchtete. Gleichwohl zeigen die Ergebnisse auch, dass die Zivilgesellschaft nicht minder aktiv ist – auch auf Seite der Migrantinnen und Migranten: „Interessanterweise haben wir in Sachsen ein großes Engagement von Geflüchteten selbst erlebt, die sich beispielsweise auf politischer Ebene einsetzen und Netzwerke zwischen Verwaltung, Zivilgesellschaft und Migrantinnen und Migranten etabliert haben. Das sind wirklich gute Beispiele, von denen auch andere Regionen lernen können. In vielen ländlichen Regionen fehlen bislang derartige Organisationen“, so Schneider.

Häufig defensive Politikansätze

„In Bezug auf die Unterstützung der sozialen Teilhabe Geflüchteter spielt die Haltung politischer Akteurinnen und Akteure vor Ort bundesweit eine große Rolle“, sagt Glorius. Basis für politisches Handeln ist die Problemwahrnehmung. So sei es problematisch, so Glorius, dass bei vielen politischen Akteurinnen und Akteuren in allen untersuchten Landkreisen in Bayern, Hessen, Niedersachsen und Sachsen die Ausgrenzungserfahrungen von Geflüchteten und rassistische und rechtsextremistische Strukturen kaum adressiert werden. „Gerade politische Akteurinnen und Akteure äußerten uns gegenüber allenfalls wahrgenommene Anfeindungen in Bezug auf Ehrenamtliche, kaum jedoch in Bezug auf Geflüchtete“, berichtet Glorius. Vielfach steht die Vermeidung von Neiddebatten in der lokalen Bevölkerung mit Bezug auf die Asylsuchenden im Mittelpunkt politischen Handelns und es werden eher defensive Politikansätze in Bezug auf die Integration von Geflüchteten entwickelt. Das bedeutet, dass insbesondere kleine Gemeinden häufig eher ad hoc auf die Herausforderungen der Zuwanderung reagierten, als aktive Integrationspolitik auch im Hinblick auf ihre Gemeindeentwicklung zu betreiben. Zugleich bleiben durch die lückenhaften Einblicke in die Lebenslagen von Geflüchteten deren Integrationsfortschritte, Eigenperspektiven und Potenziale im Hintergrund. „Eine Aktivierung dieser Potenziale für die Weiterentwicklung des Gemeinwesens bleibt aus“, resümiert Glorius und ergänzt:  „Angst, Vorurteile und Rassismus können somit in allen untersuchten Regionen als Hemmnisse der sozialen Teilhabe von Geflüchteten beschrieben werden.“  

Die Ergebnisse des Projektes machen deutlich, dass ländliche Räume viele Potenziale für die Integration von Geflüchteten bieten – insbesondere dort, wo die soziale Teilhabe gelingt. „Es gibt zahlreiche Engagierte in allen untersuchten Regionen“, so Glorius. „Ländliche Gesellschaften leben aber auch vom Einbringen vor Ort und starken persönlichen Netzwerken“. Ziel sollte aus Sicht der Chemnitzer Migrationsforscherin die Aktivierung von Geflüchteten sein, sich zu selbst hier einzubringen. „Gleichzeitig muss auch die Zivilgesellschaft vor Ort im Sinne interkultureller Öffnung gefördert werden, um die sozialen Potenziale ländlicher Regionen in der Flüchtlingsaufnahme zu stärken“, sagt Glorius. Einige ihrer Forschungsergebnisse wird die Chemnitzer Professorin auch bei der digitalen Fachkonferenz „Teilhabe und Antidiskriminierung“ im Rahmen des Beteiligungsverfahrens zum Sächsischen Integrations- und Teilhabegesetz ins Sächsische Staatsministerium für Soziales vortragen, die am 23. Juni 2021 stattfindet. 

Weitere Informationen zu Projektergebnissen und Publikationen:  https://www.gefluechtete-in-laendlichen-raeumen.de

Kontakt: Prof. Dr. Birgit Glorius, Telefon 0371 531-33435, E-Mail birgit.glorius@phil.tu-chemnitz.de

Mario Steinebach
23.06.2021

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