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Pressemitteilung vom 10.04.2000

Gestern, heute, morgen, oder wie die Gegenwart schrumpft

Philosophie / Wissenschaftstheorie

Gestern, heute, morgen, oder: wie die Gegenwart schrumpft
Der Philosoph Hermann Lübbe denkt an der Chemnitzer Uni über die Zeit nach

Er ist einer der ganz Großen der zeitgenössischen Philosophie: der aus Deutschland stammende Zürcher Professor Hermann Lübbe. Als einer der ersten setzte er sich philosophisch mit den Folgen von Internet und weltweiter Vernetzung auseinander. Die Vernetzung, so Lübbe, sei im Grunde so alt wie die Menschheit, nur habe sie sich immer mehr beschleunigt. Auch unsere Faszination für die Vergangenheit hat es ihm angetan. Daneben beschäftigt er sich mit der Frage, wie wir mit unserer Zeit umgehen. Anders als viele seiner Kollegen ist Lübbe aber kein blutleerer Denker: Er war - zwischen 1966 und 1970 - auch in der Politik aktiv, zunächst als Staatssekretär im nordrhein-westfälischen Kultusministerium, dann in gleicher Funktion sogar in der Staatskanzlei. Daneben wirkte der 1926 im ostfriesischen Aurich Geborene als Philosophie-Professor an den Universitäten in Bochum, Bielefeld und schließlich in Zürich. Zwischendurch schrieb er immer wieder Bücher und Fachaufsätze oder machte durch fesselnde Vorträge auf sich aufmerksam. Klar, dass ein solcher Mann zahlreiche Ehrungen erhielt und kaum eine Wissenschaftsakademie in Deutschland auf ihn als Mitglied verzichten mochte. Von 1975 bis 1978 war er sogar Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in Deutschland.

Jetzt kommt der gefragte Philosoph zu einer Vorlesungsreihe an die Chemnitzer Uni. Vom 17. April bis zum 3. Juli 2000 hält er jeweils an einem Montag um 18.15 Uhr im zentralen Hörsaal- und Seminargebäude, Reichenhainer Straße 70, Hörsaal N 113, insgesamt fünf Vorträge zum Thema "Zivilisationsdynamik. Moderne Zeit-Erfahrungen". Alle Chemnitzer Bürger sind dazu willkommen, der Eintritt ist frei.

Die Vorträge tragen die Titel "Gegenwartsschrumpfung - wissenschaftlich, technisch, kulturell" (17. April 2000), "Schwierigkeiten mit der Erinnerung" (8. Mai 2000), "Der Fortschritt und das Museum" (22. Mai 2000), "Erfahrungsverluste und begrenzte Kapazitäten der Innovationsverarbeitung" (19. Juni 2000) und "Freie Zeit und knappe Zeit" (3. Juli 2000). Für eine Diskussion am Ende der Vorträge ist genügend Zeit eingeplant. Spannend dürfte es besonders am 8. Mai werden, wurde dieser Tag in der DDR doch als "Tag der Befreiung vom Faschismus" gefeiert.

Eine der Thesen Lübbes lautet: Die wachsende Zahl wissenschaftlicher und technischer Neuerungen führt dazu, dass Informationen immer schneller veralten. Dadurch wird der Zeitraum immer kleiner, in dem unsere einmal erworbenen Kenntnisse von Bedeutung sind - die Gegenwart schrumpft gleichsam, weil die Vergangenheit ihr immer näher rückt. Lübbe nennt die Industrialisierung als Beispiel: Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Spinn- und Webmaschinen noch 30 Jahre genutzt, bevor sie die technische Entwicklung überholte, zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts immerhin noch 15 Jahre, obwohl sie nach dieser Zeit keineswegs verschlissen waren. Mittlerweile ist dieser Zeitraum noch weiter geschrumpft. Für die Kunst gilt das gleiche: Die verschiedenen Stile lösen einander immer schneller ab. "Neu", so Lübbe, steht nicht mehr, wie früher, gegen "alt", sondern gegen "veraltet". Wer heute bereits von morgen ist, ist übermorgen von gestern.

Die Idee vom lebenslangen Lernen hält Lübbe daher für richtig und wichtig. Sie setzt aber voraus, dass wir überhaupt erst einmal lernfähig werden - eine Fähigkeit, die, im Gegensatz zu unseren Kenntnissen, zu unserem Wissen, nicht so schnell veraltet. Diese Fähigkeit ist nach Lübbe um so höher, je mehr Ahnung wir von Sprachen und von Mathe haben, denn die widerstehen der Alterung ebenfalls. Auch wer seine knappe Zeit gut zu nutzen weiß und wer unterscheiden kann zwischen Fortschritt, der von dauerhafter Art ist und solchem, der nur eine kurze Halbwertszeit hat, ist gut dran.

Weitere Informationen: Technische Universität Chemnitz, Philosophische Fakultät, Professur Internationale Politik, Reichenhainer Straße 41, 09126 Chemnitz, Prof. Dr. Beate Neuss, Tel. (03 71)5 31-49 26, Fax (03 71)5 31-40 92, E-Mail: beate.neuss@phil.tu-chemnitz.de

Hinweis für die Medien: Professor Lübbe steht Ihnen gern für ein Gespräch zur Verfügung. Außerdem können Sie in unserer Pressestelle ein Foto von ihm anfordern. Es zeigt den Philosophen an seinem Schreibtisch.