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Überraschendes „Versteckspiel“ in berühmten mittelalterlichen Relieftafeln entdeckt

Chemnitzer Historikerin Monja Schünemann bringt bisher nicht wahrgenommene, unsichtbare Klappeffekte in Jean Fouquets „Diptychon von Melun“ zur Ansicht, die neue Interpretationen des Doppelbildes ermöglichen

  • Eine Frau hält ein Bild in Ihtren Händen.
    Verblüffender Klappeffekt: Monja Schünemann, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur Geschichte Europas im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit der TU Chemnitz, entdeckte im „Diptychon von Melun“ des französischen Malers Jean Fouquet durch eine Überlagerung der Bildhälften ein „Versteckspiel“. Fotomontage: Jacob Müller (Bildquellen: Jean Fouquet, Diptychon von Melun, Öl auf Eichenholz, Linke Tafel 93 × 85 cm, Gemäldegalerie Berlin, rechte Tafel 95 × 85,5 cm, Museum für schöne Künste Antwerpen, Copyright Wikimedia Commons; Umrisszeichnung des geschlossenen Diptychons von Schünemann auf der Abbildung der Infrarotreflektographie, diese in: Jean Fouquet. Das Diptychon von Melun, Katalog Gemäldegalerie Berlin, hg. von Stephan Kemperdick, Petersberg 2017, S. 141)
  • Das Gemälde zeigt einen stehenden und einen knieenden Mann sowie eine Frau mit entblöster Brust und einem Kind auf dem Schoß.
    Jean Fouquet, Diptychon von Melun, Öl auf Eichenholz, Linke Tafel 93 × 85 cm, Gemäldegalerie Berlin, rechte Tafel 95 × 85,5 cm, Museum für schöne Künste Antwerpen, Copyright Wikimedia Commons
  • Eine Skizze von zwei Männern liegt auf einem Gemälde.
    Umrisszeichnung des geschlossenen Diptychons von Schünemann auf der Abbildung der Infrarotreflektographie, diese in: Jean Fouquet. Das Diptychon von Melun, Katalog Gemäldegalerie Berlin, hg. von Stephan Kemperdick, Petersberg 2017, S. 141

Das „Diptychon von Melun“ des französischen Buch- und Tafelmalers Jean Fouquet ist ein bekanntes Werk aus dem Spätmittelalter. Die beiden Bildtafeln entstanden um 1455, die zuerst in einer Gruft der Stiftskirche Notre-Dame in Melun aufgehängt wurden. Bereits im 18. Jahrhundert voneinander getrennt, gehört heute die rechte Tafel dem Museum für schöne Künste Antwerpen, die linke Tafel der Gemäldegalerie Berlin. In der linken Tafel zu sehen ist der Auftraggeber des Diptychons, Étienne Chevalier – Schatzmeister der französischen Könige Karl VII. und Ludwig XI. –, der neben seinem Namenspatron, dem heiligen Stephanus kniet. Die rechte Tafel zeigt die Madonna, die dem Jesuskind die Brust gibt, umgeben von  mehreren Engeln. Das komplette Diptychon wurde 1937 anlässlich der Weltausstellung in Paris gezeigt und 80 Jahre später in Berlin. Heute sind die Tafeln des Diptychon wieder getrennt in beiden Museen zu sehen.

Gedanklich durchgespielter Klappeffekt führt zur Neuinterpretation des Diptychons

Trotz dieses Umstandes machte Monja Schünemann, Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Professur Geschichte Europas im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit (Leitung: Prof. Dr. Martin Clauss) der Technischen Universität Chemnitz, bei einer Exkursion mit Geschichtsstudierenden der TU in die Gemäldegalerie Berlin eine bemerkenswerte Entdeckung: „Als ich beim Betrachten der linken Tafel über die Bildgestattung des gesamten Diptychons intensiv nachdachte, traf mich ein Gedanke wie ein Blitz“, erinnert sich Schünemann. Noch am gleichen Tag fertigte ich von der in Berlin zu sehenden Tafel eine spiegelbildliche Skizze an und legte diese über die Tafel mit Étienne Chevalier und seinem Namenspatron – ich klappte sozusagen beide Tafeln zusammen“, so die Wissenschaftlerin und fügt hinzu: „Dabei entdeckte ich ein bisher nicht wahrgenommenes Versteckspiel, das sich beim Betrachten des geöffneten Doppelbildes nicht offenbart. Erst wenn man den Klappeffekt der eigentlich durch ein Scharnier verbundenen Bildtafeln berücksichtigt, der erst in der jüngsten Zeit immer stärker in den Fokus kunsthistorischer Arbeit rückt, erschließen sich völlig neue Interpretationen davon, was Jean Fouquet vermutlich ebenfalls zum Ausdruck bringen wollte.“

Wunder der Nährung aus der Brust der Madonna entsteht im „Sandwich-Bild“

„Das Schließen des Bildes veränderte die Bildaussage vollends, ohne dass Betrachterinnen und Betrachter das, was zwischen den aufeinanderliegenden Tafeln geschah, physisch sehen konnten“, erklärt Schünemann. Im so entstandenen „Sandwich-Bild“ kniet der Stifter Étienne Chevalier in den Falten des von Maria weit geöffneten Mantels und wird von ihr mystisch gestillt. „Die beiden Flügel des Diptychons werden so zu einer Lactatio, welches in der Ikonografie das Wunder der Nährung aus der Brust der Madonna bezeichnet. Offensichtlich wird beim Zusammenklappen der Tafeln auch, dass der auf dem Schoß der Madonna sitzende Christus dem Gestillten in die Brust und somit förmlich in dessen Herz blicken kann“, beschreibt Schünemann ihre Entdeckung. „Damit lassen sich nun auch kunsttechnologische Untersuchungen der Vergangenheit erklären, die gezeigt haben, dass sowohl der Kopf Étienne Chevaliers als auch der des heiligen Stephanus von Fouquet beim Malen korrigiert wurden“, sagt die Chemnitzer Historikerin. Der Maler wollte demnach, dass sich bestimmte Bildpunkte exakt treffen, wenn das Diptychon geschlossen wird und in diesem Augenblick der Stifter Étienne Chevalier an Madonnas Brust liegt und zum Empfänger ihrer Nahrung wird. „Auch die Richtungen der Blicke der Engel auf der rechten Tafel erhalten nun einen bisher ungeahnten Sinn“, so Schünemann.

Monja Schünemann hat ihre Entdeckung im Beitrag „Stillende Andacht. (Un)sichtbare Klappeffekte in Jean Fouquets Diptychon von Melun“ im Blog des Schlaufen-Verlags ausführlich beschrieben: https://schlaufen-verlag.de/blog/stillende-andacht. Zudem wurde ein Peer-Review-Verfahren internationaler Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker eingeleitet.

Weitere Informationen erteilt Monja Schünemann, Telefon 0371 531-38858, E-Mail monja.schuenemann@phil.tu-chemnitz.de

Mario Steinebach
14.07.2022

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