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Internationale Tagung: Periphere Identitäten. Die Iberische Halbinsel und Mittel- und Osteuropa zwischen diktatorischer Vergangenheit und europäscher Gegenwart
Konferenz

TAGUNG
Periphere Identitäten:
Die Iberische Halbinsel und Mittel- und Osteuropa zwischen diktatorischer Vergangenheit und europäischer Gegenwart


Mit dem Ende des Ostblocks haben sich das „Alte Europa“ der Europäischen Gemeinschaften und die mittel- und osteuropäischen Länder einander angenähert. Diese Annäherung wurde durch die letzten Erweiterungsrunden der Europäischen Union im Mai 2004 und im Januar 2007 institutionell gefestigt. Dabei verläuft der allmähliche Zusammenschluss zwischen dem Europa der 15 und den neuen Unions-Mitgliedern in einem asymmetrischen Prozess: Fließen die Investitionen derzeit von Westen nach Osten, so zeigen die Migrationsbewegungen in die entgegengesetzte Richtung. Auch im neuen Europa lässt sich ein altes Zentrum bestimmen, in dem sich nach wie vor die Aufmerksamkeit bündelt. Für die neuen Mitglieds- und Kandidatenländer bildet die Triangel Berlin-Paris-London mit Brüssel in seiner Mitte einen politischen und wirtschaftlichen Anziehungspol; umgekehrt bereichern die neuen EU-Staaten Europa um neue Peripherien, die sich prioritär mit dem Zentrum auseinandersetzen, die aber auch – weniger beachtete – Kontakte und Netzwerke mit anderen Peripherien anknüpfen und unterhalten.

Die Präsenz Mittel- und Osteuropas ist in den etablierten EU-15-Staaten nicht überall die gleiche. Deutschland unterhält aufgrund historischer Verflechtungen und seiner geografischen Lage sowie als Großinvestor rege Beziehungen zum osteuropäischen Raum, und zwar sowohl in Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft als auch in den alltäglichen Begegnungen der Menschen. An den westlichen Rändern Europas hingegen – in Irland oder Portugal – bestehen weniger dichte Beziehungen zu Osteuropa; zugleich prägt die zunehmende Präsenz von Migranten aus osteuropäischen Ländern die kollektive Wahrnehmung der neuen EU-Mitglieder.

Hier setzt die Tagung Peripheral Identities: Iberia and Eastern Europe between dictatorial past and European present an. Wenn im Prozess der Erweiterung Europas die Beziehungen zwischen „Zentrum“ und „Peripherie“ sowohl die Politik als auch die öffentliche Wahrnehmung des historischen Prozesses bis heute dominieren, so machen Einblicke in die direkten Beziehungen der Peripherien und Semi-Peripherien eine andere Dimension der Dynamik europäischer Integration sichtbar. Diese Beziehungen sollen anhand der gegenseitigen Wahrnehmungen der iberischen und der mittel- und osteuropäischen Länder und anhand von Vergleichen ihrer nationalen Identitätsbildungen näher untersucht werden.

Stellvertretend für die mittel- und osteuropäischen Länder, die 2004 und 2007 der EU beigetreten sind, werden die Beziehungen Polens, Rumäniens und Tschechiens zu Portugal und Spanien im Mittelpunkt der Untersuchungen stehen. Zudem sollen Arbeiten zu den Beziehungen zwischen den iberischen und weiteren ehemaligen Ostblock-Staaten einbezogen werden. Die historische Analyse von portugiesischen und spanischen Alteritätsdiskursen über Mittel- und Osteuropa macht es unumgänglich, die Sowjetunion als Führungsmacht des Ostblocks sowie die DDR als politisch wichtigen Akteur zu berücksichtigen.

Die Schwerpunktsetzung auf Portugal und Spanien einerseits und Polen, Rumänien, Russland und Tschechien andererseits ist für das Thema der Peripherie-Peripherie-Beziehungen aus verschiedenen Gründen besonders gut geeignet:

1. Die portugiesische und die spanische Geschichte des 20. Jahrhunderts und insbesondere die jeweilige Europapolitik zeigen in mancher Hinsicht einen ähnlichen, wenn auch phasenverschobenen und „spiegelbildlichen“ Verlauf zu der der ausgewählten osteuropäischen Länder: Jahrzehnte andauernden rechtsorientierten Diktaturen folgte deren Zusammenbruch und ein weitgehend konsensueller Übergang zu einem demokratischen System; die neue politische Ordnung und die marktwirtschaftlichen Strukturen wurden durch die Orientierung an Europa gestützt, die im Beitritt Portugals und Spaniens zur EWG 1986 bzw. der 10 mittel- und osteuropäischen Beitrittsländer 2004 / 2007 zur EU mündete.

2. Portugals und Spaniens EWG-Beitritt stellte die damals zehn Mitgliedsstaaten zum ersten Mal vor die Herausforderung, Anstrengungen für eine wirtschaftliche und soziale Kohäsion Europas zu unternehmen. Zeichnete sich bereits mit dem Beitritt Griechenlands 1981 ab, dass die fortschreitende europäische Integration die Förderung „strukturschwacher“ Länder impliziert, so wurde diese Erkenntnis mit dem Beitritt der iberischen Staaten durch die Gründung des Kohäsionsfonds und der europäischen Regionalpolitik in langfristige politische Maßnahmen und Institutionen umgesetzt. Die EU-Erweiterungen von 2004 und 2007 stellen die EU vor ähnliche Herausforderungen, reformbedürftige Ökonomien zu integrieren. Die Tschechische Republik besitzt eine mit Portugal vergleichbare Bevölkerungsgröße und Wirtschaftskraft und –struktur; Polen und Spanien nehmen aufgrund der geographischen Lage, der Bevölkerungszahl und der Wirtschaftstruktur ähnliche (semi-periphere) Stellungen in Europa ein. Rumänien bildet aufgrund seiner stark subventionsbedürftigen Strukturen und seiner gegenwärtigen Emigrationsbewegungen (u. a. nach Portugal und Spanien) ein Pendant zu den Beitrittsländern der 80er Jahre. Diese Parallelen machen Vergleiche interessant, die den Verlauf des Beitritts und die gegenseitige Wahrnehmung untersuchen, deren Spektrum von kühler Distanz bis zur warmherzigen Solidarität reichen kann.

3. Mit dem EU-Beitritt und dem damit einhergehenden Anwachsen von Wirtschaftskraft und Lebensstandard wurden die traditionellen Auswanderungsländer Portugal und Spanien allmählich auch zu Einwanderungsländern. Seit den späten 1990er Jahren stieg die Immigration vor allem aus Rumänien, Moldawien, Russland und der Ukraine deutlich an. Osteuropa ist dadurch in Gestalt osteuropäischer Menschen zu einer alltäglichen Realität in Portugal und Spanien geworden. Die Immigranten aus den ehemaligen „Ostblock“-Ländern konfrontieren die iberischen Gesellschaften mit sozialen und kulturellen Realitäten, die im portugiesischen und spanischen mental mapping zuvor unter dem Sammelbegriff „Sowjetunion“ subsumiert wurden.

4. Allen Ländern gemeinsam ist die Tatsache, dass ihre Identitätsbildungen geprägt sind von der Erfahrung langlebiger autoritärer Regimes im 20. Jahrhunderts und von einer darauf folgenden Phase der Orientierung an jenem einstmals „fernen“, gar feindlichen Europa. Anders jedoch als in Portugal und Spanien, wo sich die Diktatur von innen etablierte, wurde sie in Polen, Tschechien und Rumänien von einer Hegemonialmacht aufgezwungen, sodass die Wiedererlangung der Demokratie mit der Wiedererlangung der politischen Souveränität einherging. Deshalb scheinen heutige Entwürfe nationaler Identität in den osteuropäischen Ländern stärker durch eine Abgrenzung von der Ära der Diktatur geprägt zu sein als auf der Iberischen Halbinsel – zumindest geht eine Vermutung in diese Richtung. Zugleich scheint Europa als Bezugsrahmen für eine nationale Identitätsbildung in den EU-Ländern Ostmitteleuropas eine wichtigere Rolle spielen als in Portugal und Spanien, da die damit verbundene West-Orientierung zugleich eine Distanzierung vom noch immer als bedrohlich empfundenen „Osten“ bedeutet.

Die neuen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gegebenheiten beeinflussen die Entwürfe nationaler Identität in den iberischen und in den mittel- und osteuropäischen Ländern, und sie beeinflussen auch die gegenseitigen Wahrnehmungen und Repräsentationen. Die Bestimmung nationaler Identität beruht sowohl auf Selbstwahrnehmung als auch auf Abgrenzung von anderen Kollektiven. Deshalb werden zum einen die gegenseitigen Repräsentationen der hier berücksichtigen Länder untersucht. Zum anderen sollen die Bezugnahme zur nahen Vergangenheit sowie die Beziehung zu Europa als Bestandteile von Konstrukten nationaler Identität in den genannten Ländern verglichen werden.

Ziel 1: Gegenseitige Repräsentationen

Zum gegenwärtigen Bild Portugals und Spaniens in Polen, Rumänien, Russland oder Tschechien ist wenig bekannt; Publikationen liegen nur vereinzelt in den Landessprachen vor. Die Verhandlungen im Vorfeld des EU-Beitritts, das ermutigende oder warnende Beispiel der portugiesischen und spanischen Entwicklungen als EU-Mitglieder und die Erfahrungen mit den iberischen Staaten als Gastländern einer eigenen Emigranten-Diaspora haben offenbar die gegenwärtigen Repräsentationen Portugals und Spaniens in den mittel- und osteuropäischen Ländern geprägt. Da es jedoch noch an Untersuchungen fehlt, sind nur wenige Einzelheiten bekannt. Die Beiträge der Tagung sollen helfen, diese Lücke zu schließen. Die heutige Wahrnehmung der mittel- und osteuropäischen Länder in Portugal und Spanien ist ebenfalls ein offenes Forschungsfeld. Der Beitritt dieser Länder zur Europäischen Union veränderte nicht nur Portugals und Spaniens Stellung in der EU, sondern auch ihre direkten Beziehungen zu diesen Ländern jenseits des früheren „Eisernen Vorhangs“. Der portugiesische und spanische wissenschaftliche und politische Diskurs zur EU-Osterweiterung beklagt die Folgen für die jeweiligen Wirtschaften und politischen Positionen in der EU, ist jedoch frei von „Eifersucht“, die sich etwa gegen die Beitrittskandidaten richten würde. Mit der Präsenz osteuropäischer Migranten sind zugleich die neuen Mitglieder auch im portugiesischen und spanischen Alltag sichtbar geworden. Unklar bleibt jedoch, wie in den portugiesischen und spanischen Medien diese neuen sozialen und kulturellen Gegebenheiten – etwa im Vergleich mit der „traditionellen“ lusophonen Einwanderung aus Afrika und Brasilien in Portugal und mit der „traditionellen“ spanischsprachigen Einwanderung aus Lateinamerika in Spanien – reflektiert wird.

Fremdbilder sind nicht nur durch aktuelle Interaktionen geprägt, sie knüpfen zugleich an frühere Diskurse an. Aus diesem Grund soll nicht nur die Gegenwart, sondern ebenso eine historische Perspektive beleuchtet werden. Das gesamte 20. Jahrhundert bietet einen Fundus an gegenseitigen Repräsentationen, die vermutlich die heutige Perzeption beeinflussen. Die publizistischen und literarischen Äußerungen in den damaligen Ostblockländern zum Franquismus, zum portugiesischen Estado Novo, zu Salazars Kolonialpolitik und zum portugiesischen Kolonialkrieg bieten gute Anhaltspunkte für historiographische Sondierungen, ebenso wie die propagandistische Abwertung des kommunistischen Ostens in den ideologischen Stellungnahmen der iberischen Diktaturen. Bedeutsam sind auch die Repräsentationen im politischen und öffentlichen Diskurs während der spanischen transición und der portugiesischen Nelkenrevolution 1974, ebenso wie die Protest- und Reformbestrebungen in Rumänien, Polen oder der Tschechoslowakei.

Ein großer Teil der Beiträge zu den gegenseitigen Repräsentationen wird in Form von Fallstudien überwiegend unbekanntes Material präsentieren.

Ziel 2: Konstruktionen nationaler Identitäten

In den letzten Jahren hat das Thema des kollektiven Gedächtnisses in Europa an Bedeutung gewonnen. Mit dem Verschwinden der letzten Zeitzeugen des Zweiten Weltkriegs und der Shoa und mit der medialen Revolution der letzten Jahre beobachten wir gegenwärtig den Übergang des interpersonalen „kommunikativen“ in ein institutionell gestütztes „kulturelles“ Gedächtnis (Assmann 1992). Dies gibt Anlass für öffentliche Verhandlungen um die Formen und Modalitäten der öffentlich gestifteten Erinnerung. In Deutschland haben die Diskussionen um die Errichtung des Holocaust-Mahnmals in Berlin gezeigt, dass es für die kollektive Selbstvergewisserung einer Gesellschaft notwendig ist, ihre Erinnerung kulturell zu verankern.

In durchaus vergleichbarer Weise – in öffentlicher Diskussion, aber zugleich im wissenschaftlichen Diskurs verankert – finden in Portugal, Spanien, Polen, Tschechien und Rumänien Debatten über den Umgang mit der näheren Vergangenheit statt. Sie sind ein wichtiger Bestandteil der Konstruktion nationaler Identität. Sowohl die Erfahrung der langen totalitären Regimes, als auch die Orientierung an der Europäischen Union, die unmittelbar nach dem Ende ihrer Diktaturen einsetze, spielen in den heutigen Inszenierungen nationaler Identität eine Rolle.

Gerade die Europäische Integration ist ein besonderer Bestandteil nationaler Identität. Da die Diktaturen in allen hier berücksichtigten Ländern mit einer „Isolierung von Europa“ einhergingen, gleicht der Beitritt zur Europäischen Union einer „Rückkehr“ oder einer „Neuentdeckung“ Europas. Mit ihr verbunden ist der Versuch, an frühere Europa-Konzepte anzuknüpfen. Wie Europa in den einzelnen Ländern heute „gedacht“ wird, an welche Traditionen des Europa-Gedankens solche Europa-Entwürfe anknüpfen und welche Rolle sie in der aktuellen Bestimmung nationaler Identität spielen, soll ein weiteres Thema der Tagung sein.

Bislang wurde eine Reihe von Untersuchungen zu einzelnen Ländern durchgeführt, die eine gute Grundlage für weitere Überlegungen bilden. Vergleichende Untersuchungen zu Erinnerungskulturen in den iberischen und mittel- und osteuropäischen Ländern liegen jedoch kaum vor (zu einem polnisch-spanischen Vergleich vgl. Troebst 2003, 2004). Deshalb soll mit Wissenschaftern aus Polen, Portugal, Rumänien, Russland, Spanien und Tschechien eine Forschergruppe zu diesem Thema gebildet werden. Im Rahmen eines Projekts sollen vergleichende Untersuchungen zu den jeweiligen Erinnerungskulturen entstehen.

Die Tagung Peripheral Identities soll den Diskussionen über das Thema der Identitätskonstruktionen an den europäischen Peripherien ein interdisziplinäres Forum geben und den Austausch über Länder- und Fachgrenzen hinweg anregen. Unter den bislang angemeldeten Beiträgen sind die Rechts-, Politik-, Kultur- und Geschichtswissenschaften, die Linguistik sowie die iberischen und die slawischen Philologien vertreten. Die Tagung wendet sich darüber hinaus an alle sozial- und kulturwissenschaftlichen Fächer, die zu dem Thema beitragen können.

Voraussetzung für das Gelingen der Tagung sind die Teilnahme und der direkte Austausch von Experten aus osteuropäischen Ländern und aus der Iberischen Halbinsel. Neben ausgewiesenen Spezialist(inn)en werden auch Nachwuchswissenschaftler(innen) ihre Beiträge einbringen und dabei intensiv zusammenarbeiten.

Die Technische Universität Chemnitz nimmt in der hier vorgestellten Ost-West-Thematik eine „Mittlerrolle“ ein. Die Philosophische Fakultät der TU Chemnitz widmet sich in Forschung und Lehre schwerpunktmäßig den Europa-Studien, wobei Mittel- und Osteuropa besondere Berücksichtigung findet. Der Chemnitzer Europa-Schwerpunkt will jedoch in Zukunft die europäischen Ost-West-Beziehungen in den Mittelpunkt seiner Arbeit rücken und bereitet zurzeit einen MA-Studiengang zu diesem Thema vor.

Um einen möglichst intensiven Austausch unter allen Teilnehmern und Teilnehmerinnen zu ermöglichen, wurden folgende organisatorische Regeln für die Tagung festgelegt: (1) Die Teilnehmerzahl ist auf maximal 25 Personen beschränkt; (2) Alle Vorträge werden im Plenum gehalten und diskutiert; (3) Für jeden Beitrag ist ein gleichgewichtiges Verhältnis zwischen Vortrags- und Diskussionszeit vorgesehen; (4) Die Vortragsmanuskripte werden vor Beginn der Tagung an alle Teilnehmer(innen) verschickt.

Die Verhandlungssprache ist Englisch.