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Pressemitteilung vom 07.12.1998

Wie die Deutsche Bahn eine ganze Region im Stich läßt

Wie die Deutsche Bahn eine ganze Region im Stich läßt
Wissenschaftler untersuchen die Bahnanbindung der 30 größten Städte Deutschlands

Chemnitz ist unter den deutschen Großstädten mit mehr als 250.000 Einwohnern mit Abstand am schlechtesten an das Fernbahnnetz angeschlossen. Betroffen von dieser Situation ist nicht nur die Stadt selbst, sondern die gesamte Region Südwestsachsen. Das ist das Ergebnis einer Studie, die die Wirtschaftswissenschaftler Dr. Rainer Voßkamp und Jana Dörffel von der Chemnitzer Uni soeben vorgelegt haben.

Dörffel und Voßkamp untersuchten die Bahnverbindungen im Personenfernverkehr der 30 größten deutschen Städte - von Berlin (Platz 1, 3.458.763 Einwohner) über Chemnitz (Platz 27, 259.187 Einwohner) bis Magdeburg (Platz 30, 251.031 Einwohner). Die Wissenschaftler wollten so feststellen, ob sich die Verkehrsinfrastruktur der einzelnen Städte voneinander unterscheidet. Die Verkehrsanbindung ist nämlich ein wichtiger Faktor bei der Ansiedlung neuer Industrien und der wirtschaftlichen Entwicklung. Auf eine solche ausreichende Verkehrsanbindung haben die Bürger zumindest indirekt ein Anrecht: Sowohl das Grundgesetz als auch das Raumordnungsgesetz verpflichten nämlich den Staat, für "einheitliche Lebensverhältnisse" und "gleichwertige Lebensbedingungen" zu sorgen. Die sind ohne eine angemessene wirtschaftliche Entwicklung nicht denkbar.

Um die Datenmenge in Grenzen zu halten, wurden nur die Verbindungen dieser Städte zu den Metropolen Berlin, Hamburg, München, Köln, Frankfurt und Leipzig sowie der Metropolen untereinander untersucht. Damit auch Sonderfaktoren, wie etwa Feiertage und Wochenenden, ausgeschlossen waren, wurde als Stichtag für die Erhebungen ein Mittwoch im März dieses Jahres gewählt.

Dabei ermittelten die Forscher zunächst die Reisezeit, die Entfernung und die durchschnittliche Geschwindigkeit zwischen den beteiligten Städten. Um feststellen zu können, ob die Fahrgäste beim Bahnfahren, etwa weil eine direkte Verbindung fehlt oder Berge und Flüsse im Weg sind, größere Umwege in Kauf nehmen müssen, erkundeten sie auch die jeweilige Luftlinienentfernung und setzten sie in Beziehung zur Schienenentfernung. Dabei stellte sich heraus, daß Chemnitz - anders als etwa das randständige München im Süden oder Hamburg im Norden - ziemlich zentral in Deutschland liegt: die sechs Metropolen liegen im Schnitt nur 393 Bahnkilometer entfernt. Nur fünf Städte, darunter Hannover, konnten hier mit noch kürzeren Entfernungen aufwarten. Vom randständigen München im tiefen Süden dagegen muß der Reisende durchschnittlich 607 Kilometer zurücklegen, von Berlin 529, von Hamburg im hohen Norden aus immerhin noch 502. Mit einem gegenüber der Luftlinie um etwa ein Drittel längeren Bahnweg liegt Chemnitz ebenfalls in der Spitzengruppe.

Da sollte man eigentlich erwarten, daß man von Chemnitz besonders schnell in die anderen großen Städte Deutschlands reisen kann. Doch weit gefehlt: Als die Forscher sich die Reisezeiten und -geschwindigkeiten ansahen, erlebten sie eine faustdicke Überraschung: Chemnitz landete auf dem zweitletzten und dem letzten Platz der 30 Städte. Vier Stunden und 47 Minuten dauert es im Schnitt, bis man von Chemnitz aus sein Ziel erreicht, gegenüber nur 2 Stunden und 39 Minuten von Hannover. Schlußlicht ist freilich München mit 5 Stunden 15 Minuten. Der Grund für die lange Reisedauer: Während die Personenzüge von Hannover, Hamburg München oder Frankfurt aus im Schnitt mit 122 bis 130 Stundenkilometern losdüsen, schaffen die Züge ab Chemnitz gerade mal 79,8 Kilometer in der Stunde - ab Halle (Platz 29) sind es immerhin noch fast 100 "Sachen". Nur fünfzehn der insgesamt untersuchten 174 Verbindungen liegen unterhalb der 100-Studentenkilometer-Grenze, darunter alle sechs, die von Chemnitz ausgehen. Ganz besonders kraß sieht es für die wichtige Strecke zwischen Chemnitz und Leipzig aus - hier kriecht die Bahn im Schnitt mit 60,8 Kilometern pro Stunde dahin.

Bei der Zahl der Verbindungen zu den Metropolen liegt Chemnitz ebenfalls auf dem letzten Platz: Gerade zwölf Mal lassen sie sich im Schnitt pro Tag erreichen. Steigt man hingegen in Düsseldorf oder Bonn in den Zug, kann man jeden Tag zwischen mehr als 28 verschiedenen Verbindungen in die Metropolen wählen.

Die Anzahl der Verbindungen allein macht's freilich nicht - es kommt auch darauf an, daß diese möglichst gleichmäßig über den Tag verteilt sind. Voßkamp und Dörffel untersuchten deshalb zusätzlich, in wievielen Stunden- und Halbstundenabschnitten keine Züge zu den Metropolen fahren. Möglich sind also Höchstwerte von 24 bei den Stunden und 48 bei den halben Stunden. Auch hier liegt Chemnitz wiederum auf dem letzten Platz: Während 16,5 Stundenabschnitten und sogar während 37,3 Halbstundenabschnitten besteht keine Chance, von hier aus eine der wichtigsten Städte Deutschlands zu erreichen. Die Stundenwerte für die meisten anderen Städte liegen dagegen unter 10.

Zum Ausgleich dürfen die Chemnitzer dann, wenn ihnen die Lust auf das Bahnfahren immer noch nicht vergangen ist, auch früher aufstehen. Die ersten Züge in die sechs Metropolen fahren nämlich schon zu nachtschlafender Zeit los, im Schnitt um 4 Uhr 52. Nur in fünf Städten, darunter in Düsseldorf und Bonn, geht's noch früher los - und da sage noch einer, die Noch-Bundeshauptstadt sei ein verschlafenes Nest. Das liegt freilich nur daran, weil sich aus diesen Städten weitaus mehr Züge auf den Weg machen als aus Chemnitz. Sieht man sich nämlich an, wann der letzte Zug zu den Metropolen fährt, liegt Chemnitz wieder auf Platz 30: Nach 18 Uhr gibt es von hier kein Entrinnen mehr, wer nach München will, muß sogar schon um zehn vor fünf nachmittags am Bahnhof sein. Die Bonner und Düsseldorfer kommen dagegen auch nach acht Uhr abends noch gut weg. Spitzenreiter ist hier Hannover: Bis eine Minute vor halb zehn kann man sich hier Zeit lassen, Hamburg und Köln sind sogar noch nach halb elf zu erreichen.

Ebenso mies sieht es für Chemnitz beim Umsteigen aus: Im Schnitt sind 0,81 Umsteigevorgänge nötig, um in die Metropolen zu gelangen, macht Platz 25. Nur Städte wie Gelsenkirchen, Mönchengladbach oder Wiesbaden sind noch übler dran. In Hannover, Mannheim oder Frankfurt muß man dagegen in der Regel weniger als 0,2 Umsteigevorgänge in Kauf nehmen. Das Ergebnis für Chemnitz wird zudem durch das nahe Leipzig verfälscht, wohin man zwar nur im Zuckeltempo gelangt, aber immerhin ohne den Zug zu wechseln. Außerdem ist Wiesbaden rund dreimal häufiger mit dem vergleichbar nahen Frankfurt verbunden. Schlimm auch: Wer über Leipzig in eine der anderen Metropolen fährt, muß seine Koffer meist über riesige Distanzen auf dem Bahnhof schleppen und zudem überlange Wartezeiten in Kauf nehmen.

Auch bei der Qualität der Züge, die in die Metropolen abgehen, rangiert Chemnitz unter ferner liefen. Während der Fahrgast in Hannover, München oder Stuttgart meist in einen ICE einsteigt, wenn er eine lange Reise beginnt, und in den anderen Städten immerhin noch in einen IC, muß er sich in Chemnitz oft mit einem StadtExpress, allenfalls mit einem Interregio, begnügen. Da tröstet es auch nicht, daß die anderen großen Städte in Ostdeutschland ebenfalls schlecht dran sind: Auf gleich sechs letzte Plätze, bei insgesamt 13 ermittelten Werten, dazu drei weitere Ränge zwischen 25 und 29, kommt keine von ihnen. Überhaupt bekommt keine andere ostdeutsche Stadt, gleichgültig bei welchem Merkmal, das rote Schlußlicht des 30. Platzes angehängt. Allerdings ist auch Dresden acht Mal auf Rängen schlechter als 25 zu finden.

Nicht jedes der ausgewerteten Merkmale ist allerdings gleich wichtig. Der eine legt auf eine kurze Reisezeit und möglichst viele Verbindungen pro Tag Wert, für den anderen zählt hingegen mehr die Reisegeschwindigkeit Deshalb faßten Voßkamp und Dörffel die einzelnen Werte in unterschiedlicher Weise zusammen, wobei sie entweder nur den Mittelwert bildeten, mehr die Zeit oder mehr die Geschwindigkeit betonten. Auch in den so erstellten Diagrammen landete Chemnitz in allen Fällen auf dem letzten Platz.

Die Forderung aus der Studie der beiden Chemnitzer Wissenschaftler kann nur lauten: Die Fernverkehrsanbindung von Chemnitz ist so schnell wie möglich zu verbessern. Die Stadt und die gesamte Region Südwestsachsen sind in einer Weise benachteiligt, die im Sinne einer gesunden wirtschaftlichen Entwicklung nicht hingenommen werden kann. Notwendig wäre vor allem eine wesentlich kürzere Fahrzeit auf der Strecke Chemnitz-Leipzig. - zur Zeit benötigen die Züge für die nur 81 Kilometer lange Strecke noch rund eineinviertel Stunden. Auch die Umsteigezeiten und die Wege auf dem Leipziger Hauptbahnhof sind zu lang. Daneben müßte der Verkehr auf den Strecken Chemnitz-Jena-Erfurt und Chemnitz-Plauen-Hof erheblich verbessert werden. Auch an eine IC-Anbindung wäre zu denken.

Doch daß sich die beschämend schlechte Situation so schnell ändern wird, ist freilich unwahrscheinlich. Die insgesamt neun "Schienenverkehrsprojekte Deutsche Einheit" berühren Chemnitz nicht und werden wohl eher den Abstand zu den anderen Städten, besonders aber zu Leipzig und Dresden, noch weiter vergrößern. Auch die längerfristigen Bauvorhaben der deutschen Bahn klammern Chemnitz im wesentlichen aus. Und eine weitere Hoffnung hat sich ebenfalls zerschlagen: die Neigetechnik. Ursprünglich sollten solche Züge ab dem Sommer 1999 zwischen Chemnitz und Leipzig eingesetzt werden und damit die Fahrzeit um nahezu ein Drittel verkürzen. Doch die komplizierte Technik scheint nicht richtig zu funktionieren. Zudem plant die Deutsche Bahn laut Zeitungsberichten, drastisch weniger neue Züge anzuschaffen als noch vor wenigen Monaten angekündigt.

(Autor: Hubert J. Gieß)

Weitere Informationen: Technische Universität Chemnitz, Fakultät für Wirtschaftswissenschaften, Reichenhainer Str. 39, 09107 Chemnitz, Dr. Rauiner Voßkamp, Tel. 0371/531-4144, Fax 0371/531-4343, e-mail: rainer.vosskamp@wirtschaft.tu-chemnitz.de