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"Das kann noch enorme Dimensionen annehmen"

Prof. Dr. Birgit Glorius von der TU Chemnitz ist Expertin für Migration und das europäische Asylsystem – Im Interview spricht sie über die wohl größte Flüchtlingswelle Europas seit dem Zweiten Weltkrieg

Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine überqueren täglich tausende Menschen die Grenzen des Landes. Meist Frauen und Kinder fliehen vor Not und Zerstörung. Was bedeutet das für Europa? Woher kommt die große Solidarität mit den Flüchtlingen? Und was ist anders als bei der Flüchtlingskrise 2015? Frank Hommel von der Freien Presse fragte Prof. Dr. Birgit Glorius, Inhaberin der Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung der Technischen Universität Chemnitz.

Frau Professorin Glorius, der Ukraine-Krieg hat in den ersten knapp zwei Wochen schon hunderttausende Menschen in die Flucht geschlagen. Worauf muss sich Europa einstellen?

Es ist dabei, die größte Flüchtlingswelle in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg zu werden. Jetzt gehen wir innerhalb von zehn Tagen schon von anderthalb Millionen Menschen aus, die geflohen sind. Die Dynamik zeigt, dass das noch enorme Dimensionen annehmen kann.

Welche Dimensionen?

Birgit Glorius: Viel hängt von der weiteren Dynamik des Kriegsgeschehens ab. Werden sich die Kämpfe auf das ganze Land ausweiten? Im Moment kann man ja aus einigen belagerten Großstädten gar nicht mehr fliehen. Die Ukraine hat 40 Millionen Einwohner, was eine signifikant hohe Anzahl Betroffener bedeutet. Wenn wir die schon seit 2014 umkämpften Gebieten Donezk und Luhansk in der Ostukraine betrachten: 2014 lebten dort noch 6 Millionen Menschen. Die UNHCR, das Flüchtlingshilfswerk der Uno, geht davon aus, dass mindestens 1,5 Millionen Menschen aus diesen Gebieten seit 2014 weggegangen sind.

Also ein Viertel der Bevölkerung.

Genau. Umgerechnet auf die Gesamt-Ukraine käme man also auf zehn Millionen Menschen. Das ist alles extrem hypothetisch. Aber der Krieg ist sehr gewaltvoll, es sieht nicht so aus, als würde er schnell enden, und die Ukraine ist sehr bevölkerungsreich. Aus diesen drei Faktoren ergibt sich, dass es, wie gesagt, die größte Flüchtlingskrise wird, die Europa seit dem Zweiten Weltkrieg erlebt hat.

Was waren bisher die größten innereuropäischen Flüchtlingsbewegungen?

Wir in Deutschland haben als Referenzpunkt das Ende des Zweiten Weltkrieges. Von 14 Millionen deutschstämmigen Geflüchteten sind 12 Millionen in Deutschland aufgenommen worden. Später hatten wir als große Einschnitte die Ex-Jugoslawien-Kriege mit sehr vielen Geflüchteten, die in Österreich, Schweiz, Deutschland Zuflucht gefunden haben. Da die Länder relativ klein sind, ist das nicht vergleichbar mit der Ukraine mit ihren 40 Millionen Einwohnern. 2015 wurden in Deutschland über das gesamte Jahr etwa 900.000 Flüchtlinge registriert.

Flüchten die Menschen aus der Ukraine nun hauptsächlich vor den kriegerischen Auseinandersetzungen oder denken sie auch schon an die Zeit danach?

Beides. Seit 2014 sind Menschen aus der Ostukraine direkt geflohen als auch langfristig weggegangen, weil es keine Lebensperspektive mehr gab. Im Ukraine-Krieg sind wir gerade in einer zweiten Welle. Die erste Welle letzte Woche betraf Menschen, die nicht abwarten wollten, dass die Aggressionen der russischen Streitkräfte immer massiver wurden. Seit einigen Tagen sehen wir Leute, die direkt aus den Bombardements geflohen sind. Zunächst bleiben Menschen oft am ersten Zufluchtsort, weil sie nicht realisieren können, dass ihr bisheriges Leben vorbei ist. Man hofft, dass man wieder zurückkann. Aus dieser Hoffnung zieht man Energie. Die schwindet mit der Zeit. Wenn realisiert wird, es dauert länger, es gibt keinen Ort, an den man zurückgehen kann, ziehen die Menschen weiter. Wir sehen ja die Zerstörungen, die im Moment angerichtet werden. Wir sehen, dass keine Lösung in Sicht ist. Von daher müssen wir uns in Deutschland darauf einstellen, dass wir Menschen in Größenordnungen aufnehmen müssen.

Sicher mehr als 2015?

Ich gehe davon aus. Auch weil wir in unmittelbarer Nachbarschaft zu Polen sind und Polen diese Menge an Menschen nicht mehr bewältigen kann. Da die Menschen visafrei in Europa reisen können, ist es logisch, dass sie weiterreisen.

Im Vergleich zu 2015 gibt es in Bevölkerung und Politik eine relativ hohe Solidarität.

Das stimmt, und das ist sehr anders als 2015. Das kann man an einigen Punkten festmachen. Das eine ist dieses Gefühl der unmittelbaren Betroffenheit. Ein zweiter Punkt: Es klingt vielleicht zynisch, aber man kann die Flüchtlingsbewegung nicht durch eine politische Entscheidung wie das EU-Türkei-Agreement aufhalten. Das Dritte ist die politische Rahmensetzung. Einstimmig haben die EU-Staaten die Asylmechanismen, die sehr langwierig sind und viele Verwaltungsressourcen auffressen, außer Kraft gesetzt. Ebenso die Dublin-Verordnung, die regelt, welches Land zuständig ist für die Aufnahme und die Asylverfahren. Das war 2015 das große Politikum. Jetzt ist das anders. Die Leute können überall in Europa Aufnahme finden. Sie haben einen temporären Schutzstatus, zunächst für drei Jahre. Damit haben sie sofort Zugang zu Sozialleistungen, Arbeitsmarkt, Gesundheits- und Bildungssystem und so weiter. Das ist schon ein sehr gravierender Unterschied.

Ist diese Einigkeit überraschend?

Jein. Die große Blockade 2015/2016 gegenüber solidarischer Verteilung der Flüchtling kam von den sogenannten Visegrád-Staaten: Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn. Das war zum Teil Protest gegen die Dominanz der alten EU-Staaten. Und es war geprägt davon, dass man die damaligen Migranten als sehr, sehr fremd empfunden hat. Es gab auch rassistische Motive: dass man sich nicht vorstellen konnte, muslimische Menschen aufzunehmen, und Menschen mit anderer Hautfarbe mit großem Misstrauen begegnet ist. Und das Gefühl hatte, für die sind wir gar nicht zuständig. Das ist jetzt anders. Das sind direkte Nachbarn. Man teilt das postsowjetische Schicksal. Außerdem spielten Bilder und Emotionen eine Rolle. Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj hat Akzente gesetzt in der Art und Weise, wie er die EU-Staaten angefleht hat und an die Solidarität appelliert hat.

Kann die Stimmung in Bevölkerung und Politik wieder kippen?

Das ist immer möglich. Dass Vorurteile hervorkommen gegen angebliches Nichtstun von Geflüchteten, dass Sozialneid entsteht. Wir kennen auch antislawischen Rassismus. Es könnten auch Staaten sagen: Wir können nicht mehr. Zum jetzigen Zeitpunkt ist es aber müßig, darüber nachzudenken, weil dieser Konflikt noch so heiß brennt. Wir wissen gar nicht, wie sich das weiterentwickelt.

Warum geht jetzt, was 2015 so schwierig war?

Eine berechtigte Frage. Es wäre für die Menschen, die 2015/2016 gekommen sind, leichter gewesen, sich zu stabilisieren und ein eigenständiges Leben zu starten, wenn sie genau diese Regularien auch genossen hätten. Wenn sie nicht durchs Asylverfahren gehen müssen. Viele wurden ganz lange in Unsicherheit gehalten, die Verfahren zogen sich hin wegen Kapazitätsmangels oder komplizierter Fälle. In dieser Zeit waren die Menschen von vielen Bereichen der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen. Aber damals war Europa eine nachgelagerte Region, die Personen aus Konfliktregionen übernommen und teils mit Abschottungsgedanken reagiert hat. Jetzt sitzt der Konflikt mitten in Europa. Aus der Verantwortung kommt man nicht raus.

Um mit Angela Merkel zu fragen: Schaffen wir das?

Da möchte ich mit einem berühmten Merkelwort antworten. Das ist alternativlos. Die Leute kommen. Sie werden vermutlich auch mittelfristig nicht zurückgehen können. Es braucht gewaltige Anstrengungen, die ein neues Denken erfordern. Nach dem Zweiten Weltkrieg machten Vertriebene in manchen Regionen mehr als die Hälfte der Bevölkerung aus. In Bayern sind ganze Städte neu entstanden. Weit in die Zukunft gedacht, kann ich mir so etwas jetzt auch vorstellen. Dass man da vielleicht ukrainische Exilschulen einrichtet, Siedlungen baut. In Polen dürfte dieses Denken bald einsetzen.

Weitere Informationen erteilt Prof. Dr. Birgit Glorius, Telefon 0371 531-33435, E-Mail birgit.glorius@phil.tu-chemnitz.de.

Zur Person: Prof. Dr. Birgit Glorius

Nach dem Studium der Geographie an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg zog es Birgit Glorius zum Auslandsstudium an die University of Texas (Austin). 2007 promovierte sie zum Thema „Polnische Migranten in Leipzig – Eine transnationale Perspektive auf Migranten und Integration“ an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Es schlossen sich daran Tätigkeiten als Wissenschaftliche Mitarbeiterin in Halle und Leipzig an, bevor sie 2013 an die TU Chemnitz wechselte und die Juniorprofessur für Humangeographie Ostmitteleuropas übernahm. Seit Oktober 2018 leitet sie die Professur Humangeographie mit dem Schwerpunkt Europäische Migrationsforschung an der Philosophischen Fakultät der TU Chemnitz. 2021 übernahm sie die Leitung des wissenschaftlichen Beirats des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge, diesem Beirat gehört sie bereits seit 2019 an.

Die Forschungsschwerpunkte von Glorius liegen im Bereich der Migrationsforschung und des demografischen Wandels. Zudem arbeitet sie zu sozialgeographischen Themen und Fragen der Regionalentwicklung. Ihr besonderes Interesse galt in den vergangenen Jahren dem sächsisch-tschechischen Grenzraum, Bulgarien und den Westbalkanstaaten. Glorius leitete u. a. das im Rahmen von HORIZON 2020 geförderte Forschungsprojekt „Evaluierung des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems unter Druck und Empfehlungen für seine zukünftige Entwicklung“ (CEASEVAL). Aktuell befasst sich die Migrationsforscherin vorrangig mit Projekten zur Europäischen Asylpolitik und mit der Integration von Geflüchteten in ländlichen Räumen Deutschlands.

Hinweis: Unter der Rubrik "Hintergrund" veröffentlichte die "Freie Presse" in der Ausgabe vom 9. März 2022 dieses Interview mit Prof. Dr. Birgit Glorius. Unter dieser Rubrik oder unter dem Motto "Einspruch - Standpunkte zum Streiten" sollen auch weiterhin verstärkt kontroverse Meinungen aus Wissenschaft und Gesellschaft öffentlich gemacht werden und die Diskussion anregen. Angehörige der TU Chemnitz, die sich hier auch gern einmal fundiert äußern möchten, sind dazu eingeladen. Kontakt: chefredaktion@freiepresse.de  und/oder mario.steinebach@verwaltung.tu-chemnitz.de.

Veranstaltungstipp: Online-Diskussion zum Krieg in der Ukraine am 9. März 2022 ab 16 Uhr

Zur wissenschaftlichen Einordnung des Krieges in der Ukraine lädt die TU Chemnitz am 9. März 2022 ab 16 Uhr zu einer Online-Diskussion ein. Neben Prof. Dr. Birgit Glorius ist Prof. Dr. Stefan Garsztecki, Inhaber der Professur Kultur- und Länderstudien Ostmitteleuropas der TU Chemnitz und Experte für die Region Ostmitteleuropa, Prof. Dr. Kai Oppermann, Inhaber der Professur Internationale Politik an der TU Chemnitz und Experte für internationale Politik, sowie Prof. Dr. Vladimir Shikhman, Inhaber der Professur Wirtschaftsmathematik an der TU Chemnitz, dabei. Moderiert wird das Podium von dem Journalisten Pascal Anselmi, der unter anderem auch Host des Wissenschaftspodcasts „TUCscicast“ der TU Chemnitz ist. Link zum Zoom-Meeting: https://us02web.zoom.us/j/83280845594 (Meeting-ID: 832 8084 5594).

Mario Steinebach
09.03.2022

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