MADRID MONUMENTAL

 

JUNIORPROFESSUR KULTURELLER UND SOZIALER WANDEL

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Die Gründung von Institutionen wie das Ateneo de Madrid, die Sprach- und Geschichtsakademie oder die Nationalbibliothek ist in den Prozess des Nation-Building einzuordnen. Das Ateneo etwa wurde in Madrid von der intellektuellen Elite gegründet, deren Schicht „von entscheidender Bedeutung für die Herausbildung des europäischen Nationalismus im 19. Jahrhundert“[1] war. Doch was bedeutet Nation-Building und welchen Einfluss hatte es auf bestehende Gesellschaften?

Der Begriff „Nation“ ist kaum fassbar, was umso mehr erstaunt, wenn man die Bedeutung des nationalen Gedankens in den letzten beiden Jahrhunderte betrachtet. Diesen Paradoxon brachte der britische Ökonom und Verfassungstheoretiker Walter Bagehot nüchtern auf den Punkt, als er behauptete: „[W]ir wissen, was es ist, solange uns niemand danach fragt, aber wir können es nicht sofort erklären oder definieren.“[2]

Was ist eine Nation? Der Versuch einer Definition

Der Begriff „Nation“ selbst ist nicht älter als das 18. Jahrhundert, doch bis heute gibt es noch keine eindeutige Definition, die diesen „sehr jungen Neuankömmling in der Geschichte“[3] hinreichend erörtert. Natürlich gab es seitdem zahlreiche Versuche der Festlegung objektiver Kriterien, die eine „Nation“ ausmachen sollen und Erklärungen, wieso gewisse Gruppen zu „Nationen“ wurden und andere nicht.

Diese Mutmaßungen stützten sich dabei auf Merkmale wie Sprache, ethnische Zugehörigkeit, ein gemeinsames Territorium, eine gemeinsame Geschichte oder kulturelle Gemeinsamkeiten. Allerdings sind diese Versuche als untauglich zu betrachten, denn einerseits gibt es zwar gesellschaftliche Gebilde, auf die die Kriterien zutreffen, die aber keine „Nation“ sind, beziehungsweise sein wollen. Andererseits hingegen gibt es unzweifelhafte Nationen, die aber keinerlei gemeinsame Merkmale aufweisen.[4] Somit wird deutlich, dass sich diese Anhaltspunkte einer möglichen Definition als nutzlos erweisen, denn Merkmale wie die zum Beispiel ethnische Zugehörigkeit, die Sprache und eine gemeinsame Kultur sind so stark miteinander verwoben, mehrdeutig und wandelbar, dass eine genaue Abgrenzung von anderen Gruppen unmöglich ist.[5]

Eine andere Art von Definition wagt Benedict Anderson, denn er beschreibt die „Nation“ als „eine vorgestellte politische Gemeinschaft – vorgestellt als begrenzt und souverän.“[6] Er sagt, dass sie vorgestellt ist, weil die Angehörigen einer noch so kleinen „Nation“ sich niemals alle persönlich kennenlernen werden, aber trotzdem ein Gefühl von Gemeinschaft in sich fühlen. Diese Gemeinschaft wird innerhalb der Mitglieder ungeachtet von „realer Ungleichheit und Ausbeutung […] als ´kameradschaftlicher´ Verbund von Gleichen verstanden.“[7]

Außerdem stellt Anderson die „Nation“ als begrenzt dar, weil die Mitglieder selbst der größten nationalen Gemeinschaften in genau bestimmten Grenzen leben, jenseits derer sich wiederum andere ebensolche Gebilde befinden.

Des Weiteren gilt die „Nation“ in Andersons Augen als souverän. Denn mit der Entstehung des modernen Nationalstaates, mit dem der Prozess des Nation-Building einherging, wurde eine neue Staatsform entwickelt, die „die Legitimität der als von Gottes Gnaden gedachten hierarchisch-dynastischen Reiche“[8] zerstörte. In diesem Zusammenhang entstand ein Staatsvolk, das frei sein wollte. Somit ist Symbol dieser Freiheit der souveräne Staat.

Doch welchen Einfluss hatte die neue Staatsform im 19. Jahrhundert auf den entstehenden Prozess des Nation-Building und welche gesellschaftlichen Veränderungen gingen damit einher?

Der Prozess des Nation-Building im 19. Jahrhundert

Während der Phase der Aufklärung und Revolution entstand durch die Schaffung staatlicher Strukturen eine neue Regierungsform, die den Wünschen des Staatsvolkes nach Unabhängigkeit, Freiheit und Partizipation entsprach. Denn nach dem Ende der Dynastie konnte der moderne Nationalstaat seine Macht nicht mehr mit Hilfe einer Gottheit legitimieren. Er musste von nun an „unabhängig von [seiner] Verfassung auch auf [seine] Untertanen Rücksicht nehmen […], denn im Zeitalter der Revolution war es schwieriger geworden, sie zu regieren.“[9] Dies führte zu einer allmählichen Demokratisierung, denn das Staatsvolk bestand nun nicht mehr aus Untertanen, sondern aus souveränen Bürgern.

In dieser Zeit war die Allgegenwart des Staates deutlich zu spüren. Es kam zu einer immensen „Ausweitung der Bürokratie, die auch deren Spezialisierung bedeutete […]  [und die] im Gegensatz zur Vergangenheit einer viel größeren Anzahl Menschen aus weit unterschiedlicheren sozialen Schichten eine Karriere in der Verwaltung“[10] ermöglichte.

Der verstärkte Ausbau der Verwaltung mündete ebenfalls allmählich in eine behutsame, aber stetig voranschreitende Integration von immer größeren Teilen der Bevölkerung in politische und soziokulturelle Einrichtungen. So wurden in einem wachsenden Maße regelmäßig Volkszählungen durchgeführt, um dem Staat einen Überblick über seine Untertanen und Bürger zu geben. Die Revolutionen im Transport- und Verkehrswesen stellten zudem sicher, dass auch die abgelegensten Vorposten des Staates von der zentralen Obrigkeit erreicht wurden. Außerdem wurde in dieser Zeit die Schul- und die Wehrpflicht eingeführt und ein nationales Geburts-, Heirats- und Sterberegister vervollständigte schließlich den wachsenden Staatsapparat. Dadurch waren „Regierung und Untertan oder Staatsbürger […] durch tägliche Bande zwangsläufig in einer Weise miteinander verknüpft wie nie zuvor.“[11]

Des Weiteren konnten die Staatsbürger im Rahmen der zunehmenden Demokratisierung, unter anderem durch das Wahlrecht, aktiv an der Gestaltung des Staates mitwirken. Aus der Einbeziehung des Volkes und die wachsende Landschaft aus Institutionen entwickelte sich der Staatspatriotismus, da eine passive Identifikation der Bürger mit ihrer „Nation“ unausweichlich war.[12]

Neben den zentralen Elementen des Nation-Building, der gemeinschaftsbildenden, überzeugungskräftigen Ideologie, des funktionsfähigen Staatsapparates und der Integration der Gesellschaft wurden weitere identitätsstiftende Stabilisierungsmechanismen durchgeführt.

So kam es außerdem zur Etablierung gemeinsamer kultureller Standards und äußerer nationaler Symbole wie einer Staatsflagge, einer Nationalhymne, Nationalfeiertagen, die Erfindung von Traditionen sowie der Erinnerung an nationale Mythen und Geschichten. Die Regierungen nutzten diese Symbole und den Zusammenhalt, um das Staatsvolk auf ihre „Nation“ einzuschwören, was schließlich in einer zunehmenden Politisierung des Nationalismus resultierte.[13]

Nicht zuletzt für den Verwaltungsapparat und für die Kommunikation zwischen Volk und Staat war daraufhin die Einführung einer Amts- bzw. Nationalsprache nötig. Bereits ab dem Grundschulalter wurde, „um das Bild und Erbe der ‚Nation‘ zu verbreiten, die Liebe zu ihr einzuimpfen und alle auf das Land und die Fahne einzuschwören“[14], den Kindern in Form von Büchern und der Nationalhymne in ihrer „Nationalsprache“ die nötige Hingabe zu ihrem Staat vermittelt. Diese mehr oder weniger gezwungene Identifikation mit der eigenen „Nation“ wurde durch die Homogenisierung und Vereinheitlichung in Form einer gemeinsam gesprochenen Sprache ermöglicht.

Dieser Prozess der Steuerung von oben hatte allerdings zunehmend den Charakter einer ideologischen Konstruktion, denn die nationale Identität wurde von der Regierung willkürlich konstruiert, indem unterschiedliche Gruppen zu einer Nation geformt wurden, die vorher kaum etwas miteinander verbunden hatte. Auch die in diesem Zusammenhang entstandenen Nationalsprachen als solches „haben […] fast immer etwas von einem Kunstprodukt und sind gelegentlich […] so gut wie erfunden.“[15]

Schlussfolgernd lässt sich sagen, dass eine „Nation“ als solches und der „Nationalismus“ eines Volkes zumeist Produkte des Staates sind, die für dessen eigene, meist politische Zwecke genutzt werden. Aus diesem Grund werden gemeinsame Traditionen oder ethnische Eigenschaften geschaffen, die die Identifikation mit der eigenen „Nation“ fördern und deren „Seele“ ausmachen sollen. Dies stellt auch Ernest Gellner fest, denn er schreibt, „Nationalismus ist keineswegs das Erwachen von Nationen zu Selbstbewußtsein: man erfindet Nationen, wo es sie vorher nicht gab.“[16]

Um dieses Selbstbewusstsein unter den Bürgern eines Nationalstaates zu verbreiten, spielte im Spanien des 19. Jahrhunderts Institutionen wie das Ateneo de Madrid, die Sprach- und Geschichtsakademie und die Nationalbibliothek eine besondere Rolle, die in den folgenden Sektionen analysiert wird.

Nadja Kemter

Lesen Sie mehr:

 


[1] Anderson 1983: 76.
[2] Bagehot 1887: 20f.
[3] Hobsbawn 1990: 15.
[4] Hobsbawn 1990: 15f.
[5] Hobsbawn 1990: 16.

[6] Anderson 1983: 15.
[7] Anderson: 17.
[8] Anderson: 17.
[9] Hobsbawn: 1990: 34.
[10] Hobsbawn 1983: 81.
[11] Hobsbawn 1990: 98.
[12] Hobsbawn 1990: 104.

[13] Hobsbawn 1990: 114f.
[14] Hobsbawn 1990: 110.
[15] Hobsbawn 1990: 67f.
[16] Gellner 1964: 169.