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Nur wer dem roten Faden folgt, trifft ins Schwarze

Zehn – strukturelle und sprachliche – Anregungen für das Schreiben einer Dissertation von Prof. Dr. Eckhard Jesse

  • Zum Autor: Eckhard Jesse, 2007 bis 2009 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft, lehrte vom 1. April 1993 bis zum 30. September 2014 an der TU Chemnitz Politikwissenschaft. Er hat bisher ca. 80 Promotionen als Erstgutachter betreut und fünf Habilitationen. Jüngst erschien von ihm in dem Periodikum "Forschung & Lehre" (Heft 8/2014): "Verantwortung und Vertrauen: Wider die verschulte Promotion". Foto: Heiko Kießling

1. Lege eine konsistente Gliederung vor
Eine stimmige Gliederung ist wichtig, weil sie die logische Struktur der Arbeit auf den ersten Blick erkennen lässt. Wer sie zu Beginn erstellt, ist gezwungen, seine Analyse in groben Zügen vom Anfang bis zum Ende zu durchdenken. Eine weitgehend ausgereifte Konzeption gibt einerseits einen konkreten Plan vor und schafft andererseits frühe Erfolgserlebnisse. Allzu kurze Kapitel sind nicht tragfähig, allzu lange unübersichtlich. Eine gute Gliederung kommt ohne Exkurse und detaillierte Vorgaben aus (möglichst nicht mehr als drei Ebenen: z.B. 4.1.1.). Ein überleitender Vorspann zwischen 4. und 4.1. ist ebenso überflüssig wie einer zwischen 4.1. und 4.1.1. Jedes Kapitel sollte notwendig und hinreichend für die Analyse sein. Die Gliederungsebenen müssen stimmen, die Kapitelüberschriften dürfen sich nicht wiederholen.

2. Achte auf eine originelle und klare Leitfrage
Die Problemstellung hat originell, klar und komplex zugleich zu sein: konzeptionell originell, um die Relevanz des Themas sichtbar zu machen; sprachlich klar für die Nachvollziehbarkeit; inhaltlich komplex, damit neue Erkenntnisse entstehen. Mit der Güte der Leitfrage, aus der Unterfragen entspringen, steht und fällt die Qualität der Studie. Fragen, die ein schlichtes ja oder nein provozieren, verbieten sich. Das Vorgehen kann deskriptiv (Wie ist der Sachverhalt?), analytisch (Warum ist er so?) und/oder präskriptiv (Wie ist er zu bewerten?) sein. Wer möglichst ergebnisoffen die Materie sichtet, ist von wissenschaftlichem Ethos geleitet. Das schließt Thesen- und Hypothesenbildung keineswegs aus. Sie begünstigen eine transparente Arbeitsweise. Nur wer dem roten Faden folgt, trifft ins Schwarze.

3. Wähle vielfältige und passfähige Methoden
Die Qualität einer Dissertation hängt entscheidend von der Art und der Vielfalt der Methoden ab – bei der Erhebung der Daten wie ihrer Interpretation. Obwohl das Fehlen einer für jede Problemstellung geeigneten „Allzweckwaffe“ Capricen begünstigt, soll die zentrale Frage die Methodik bestimmen, nicht diese jene Verfahren, die ein Ergebnis präjudizieren, sind schlechte Verfahren. Da Stärken selten ohne Schwächen auskommen, führt Methodenmonismus in eine Sackgasse, Methodenpluralismus hingegen nach Rom. Die Wahl der Methode ist das Eine, ihre Umsetzung das Andere. Es gibt keine allgemeingültige „Faustregel“ außer der folgenden: Strebe nach Transparenz – nicht um ihrer selbst willen, sondern damit andere die Chance besitzen, die Resultate kritisch zu überprüfen. Der Leser soll erkennen, auf welche Weise der Doktorand die Leitfrage beantworten will.

4. Lass die Einleitung Dein Kompass sein
Die Einleitung, das Aushängeschild der Arbeit, hat einführenden Charakter und soll den Leser nicht mit Literatur „erschlagen“ (Ausnahme: das Unterkapitel zum Forschungsstand), sondern Interesse für den Gegenstand wecken, z.B. durch Anknüpfen an ein aktuelles Problem. Der Forschungsüberblick präsentiert und strukturiert die Literatur zum Thema (und zwar „trichterförmig“: umso detaillierter, je stärker die Leitfrage davon betroffen ist), ordnet sie bewertend ein und arbeitet Lücken heraus. Der Leser will wissen, worauf die Studie hinaus läuft, nicht immer an die Hand genommen werden. „Regieanweisungen“ gehören an den Anfang, nirgendwo anders hin. Eine durchdachte Einleitung dient während des Schreibens als Kompass, damit der Verfasser sein Ziel im Auge behält. Das schließt spätere Modifikation nicht aus.

5. Verbinde die „Mittelteile“ mit Anfang und Ende
Kein Kapitel soll den Titel der Studie paraphrasieren oder gar übernehmen, weil es nur einen Teil der Arbeit abdeckt. Die „Mittelteile“ bestehen aus logisch aufeinander bezogenen Kapiteln (nicht aus einem Mammutkapitel). Zugegeben: Es ist angesichts der Buntscheckigkeit der Themen schwierig, für die „Mittelteile“ verbindliche Aussagen zu treffen. Gleichwohl: Der eingangs (nach der Einleitung) entfaltete Bezugsrahmen dient als Orientierungspunkt für die weiteren Überlegungen. Diese müssen jenen aufgreifen. „Schlüsselkapitel“ sind keine Schlusskapitel. Wer andere Positionen referiert, hat sie korrekt wiederzugeben, und wer Kritik an ihnen übt, soll auf zentrale Argumente zielen. „Schlüsselsätze“ stehen am Anfang oder am Ende der Kapitel. Was nicht zum Thema gehört, ist entbehrlich, mag es für sich genommen noch so aufschlussreich sein. Eine spezifische Kunst: die Einleitung mit den „Mittelteilen“ angemessen zu verknüpfen wie die „Mittelteile“ mit dem Schluss.

6. Formuliere den Schluss ergebnisorientiert
Wer die Ergebnisse einer umfangreichen Studie schnell und kompakt zu erfahren gedenkt, nimmt zuerst ihre Zusammenfassung (im Schlusskapitel) in Augenschein. Sie präsentiert die eigenen Resultate, weniger erneut das Vorgehen. Die Quintessenz kann – bei vorherigen Zwischenfazits – kürzer ausfallen. Was (und warum es) neu ist, verdient eine ausführliche Würdigung. Ein Resümee – ebenso eine Visitenkarte der Studie wie ihre Einleitung – ist nicht der geeignete Ort für weiterführende Gedanken, wohl aber ein Unterkapitel innerhalb des Schlusses, der z.B. Prognosen und Perspektiven bietet. Insofern bildet das Fazit nur einen Teil davon, freilich einen zentralen. Wem eine prägnante Zusammenschau nicht gelingt, der muss seinen Text auf Übersichtlichkeit hin erneut sichten.

7. Reduziere Füll- und Modewörter
Eine gute Arbeit verzichtet weitgehend auf Füllwörter: an dieser Stelle, auch, doch, durchaus, eben, eigentlich, einigermaßen, gewissermaßen, in der Tat, in diesem Zusammenhang, ja, letztlich, nämlich, natürlich, nun, schlussendlich, sicherlich, zweifellos. Gleiches gilt für Modewörter: absolut, abzielen, belastbar, breit aufstellen, definitiv, ergebnistechnisch, generieren, Highlight, (kritisch) hinterfragen, interessant, letzten Endes, Nulltoleranz, positionieren, Sinn machen, spannend, zielführend. „Tote“ Wörter sind sparsam einzusetzen: aufzeigen, beinhalten, bezüglich, darstellen, durchführen, erfolgen, mit Bezug auf, sich befinden, sich ergeben, Stellenwert, verorten. Anschauliches Deutsch ist gutes Deutsch und eine wahre Labsal – auch in der Wissenschaft.

8. Schreibe präzise und verständlich
Formuliere unprätentiös, reduziere den Passivstil, verzichte auf aufgebläht-blutleere Wendungen, sei mit Anglizismen zurückhaltend. Schlichtes Deutsch ist selten schlechtes Deutsch. Verständlich Schreiben bedeutet nicht, Sachverhalte zu vereinfachen, sondern löst das wissenschaftliche Postulat nach intersubjektiver Nachvollziehbarkeit ein – schwurbelige Sprache immunisiert vor Kritik. Weder Substantivstil noch permanente Infinitivsätze tragen zu einer lebendigen Sprache bei: Beschließe, den Beschluss zu fassen, die Verwendung möglichst weniger Endungen auf „ung“ in Erwägung zu ziehen. Schachtelsätze erschweren den Sinnzugang, ein „abgehackter“ Sprachduktus hingegen ermüdet. Setze keinen falschen Komparativ („erstere“, „letztere“), sei aufmerksam bei doppelter Negation, achte auf den Artikel („der/das Verdienst“, „der/das Schild“), steigere keinen Superlativ („maximalstes Ergebnis“), vermeide Pleonasmen („sein eigenes“, „hochstilisieren“, „vorprogrammieren“, „einfordern“, „soll angeblich“), falsche Worte („unterprivilegiert“, „mehr als verdient“), den fehlerhaften Gebrauch von Worten („scheinbar“ ist nicht „anscheinend“, „gleichzeitig“ nicht „zugleich“, „vordergründig“ nicht „offensichtlich“). „Man“ verwirrt, muss doch der Leser wissen, wer welche Position vertritt. Benutze einen Doppelpunkt, um (zu) viele „Dass“-Sätze zu reduzieren. Verbinde fremdsprachige Satzteile nicht mit deutschen.

9. Orientiere Dich an formaler Einheitlichkeit
Eine gute Arbeit ist durch Übersichtlichkeit gekennzeichnet. Absätze sollen in einem Sinnzusammenhang stehen, Gedankensprünge gefährden ihn, und Redundanzen sind entbehrlich. Da der Kerngehalt in den Hauptsatz gehört, entfällt ein stilistisch unschöner Vorspann wie „es ist zu befürchten, dass“. Die Korrektur am Computer provoziert Fehler – korrigiere das Korrigierte mehrfach mit der Hand. Die einheitliche und übersichtliche Form der maßvoll eingesetzten Fußnoten ist eine Selbstverständlichkeit, ebenso der Beleg für die Übernahme der Zitate und Gedankengänge anderer. Nie ist ein Sachverhalt zu „unterschätzen“ oder zu „überschätzen“. Zu viele Querverweise sprechen für Schwächen in der Struktur. Die Überschriften in der Gliederung müssen sich mit denen im Text decken. Quellen- und Literaturverzeichnis sind unabdingbar, Personen- und Sachregister wünschenswert.

10. Relativiere die Maximen
Wer eine – zum Beispiel politikwissenschaftliche – Dissertation schreiben will, muss beherzt sein und darf keineswegs starren „Regeln“ folgen. Meide Perfektionismus. Sprachlich-stilistische Maximen zu beachten, garantiert zwar nicht den Erfolg des Vorhabens, aber wer sie nicht beherzigt, kann keine überzeugende Studie zu Wege bringen. Die Ergebnisse finden eher einen adäquaten Zugang in die wissenschaftliche Diskussion, wenn der Leser den Inhalten und der Sprache gleichermaßen Aufmerksamkeit schenkt. Jeder hat seinen „Stil“ zu finden. Das läuft jedoch nicht auf die Pflege von Manierismen und Marotten hinaus. Inhaltliche Akkuratesse rangiert im Zweifel vor sprachlicher. Wichtiger als eine gute Sprache ist eine gute wissenschaftliche Konzeption. Jedoch: Schließt das Eine das Andere wirklich aus? Oder bedingt das Eine das Andere?

(Quelle: Universitätsmagazin "TU-Spektrum", Heft 2/2014)

Katharina Thehos
29.12.2014

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