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Über den Wolken wird die Freiheit nicht grenzenlos sein

Arbeitssoziologen der TU Chemnitz untersuchen den Strukturwandel der Arbeit von Piloten und Flugbegleitern

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Dr. Ingo Matuschek (r.) beim Interview im Cockpit. Foto: privat

Vorbei sind die Zeiten, als sehnsüchtig in den Himmel geschaut wurde, wenn ein Flugzeug dort seine Bahn zog. Heute scheint ein Flug für jeden erschwinglich und in der Tat eine große Freiheit über den Wolken zu herrschen. Dennoch bleibt bei manchem ein ungutes Gefühl: Fliegen für wenige Euro - geht das überhaupt? Die Chemnitzer Arbeitssoziologen der Professur Industrie- und Techniksoziologie der TU Chemnitz gehen dieser Frage im Projekt "Multiple Entgrenzung der Arbeit des Flugpersonals im kommerziellen Luftverkehr" nach, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft gefördert wird.

Die Chemnitzer Wissenschaftler untersuchen insbesondere, wie sich die Arbeits- und Berufsbedingungen von Piloten und Flugbegleitern angesichts des dramatischen Strukturwandels der Luftverkehrsindustrie verändern. Dank der großen Kooperationsbereitschaft der beteiligten Airlines können die Forscher das Personal auch an ihren Arbeitsplätzen beobachten - sei es im Cockpit einer Boeing 737 oder eines Airbus A 320. Das damit meist auch kurze Aufenthalte z.B. auf Kreta oder eineinhalb Tage in Bangkok verbunden sind, ist für die Forscher wichtig: "Denn nur so erfahren wir unmittelbar, wie belastend ein solch arhythmischer Lebensstil ist und wie anstrengend es für Piloten ist, Aufmerksamkeit und Reaktionsvermögen aufrechtzuerhalten, wenn über Stunden der Autopilot die Routinearbeit übernimmt", berichtet Prof. G. Günter Voß. Beobachtet wird auch, was es für Flugbegleiter bedeutet, freundlich zu verärgerten Passagieren zu sein oder die Sicherheitsinstruktionen an Bord bei aller Routine immer wieder aufmerksam vorzuführen und dabei ständig zu lächeln.

Bei ihrer Forschung unterscheiden die Arbeitssoziologen systematisch zwischen den so genannten "Billigfliegern", alteingesessenen Luftfahrtunternehmen und der Geschäftsfliegerei sowie zwischen Passagierflug und Luft-Cargo. Insgesamt werden 60 Intensivinterviews mit Piloten, Flugbegleitern, aber auch mit Vertretern des Flugbetriebsmanagements und der Geschäftsführungen der Airlines von je etwa zweistündiger Dauer zu folgenden Themengebieten geführt: Wie verändert sich das Luftverkehrssystem im Ganzen und welche Entwicklungen sind demnächst zu erwarten? Welche Rolle spielt die Technologie und welche der Mensch? Haben sich die Passagiere verändert und was bedeutet das für den Umgang mit ihnen?

Erste Ergebnisse wurden auf dem Weltsoziologiekongress in Durban (Südafrika) vorgestellt. "So lassen sich aus arbeitssoziologischer Perspektive bereits Hinweise darauf finden, dass Strukturen und Regulierungen in der Luftfahrt, wie Arbeitszeiten bereits stark aufgebrochen oder verschoben sind", sagt der Projektverantwortliche Dr. Ingo Matuschek. In soziologischer Fachsprache handelt es sich dabei um die "Entgrenzung von Arbeit". Insgesamt deutet es auf einen tiefgreifenden Wandel für Berufe und Branche hin, mit dem sich bisher nur wenig systematisch auseinandergesetzt wurde. Auch wenn Kabine und Cockpit heute aus betriebswirtschaftlicher Perspektive als Profit-Center angesehen werden, treibt dies die Entgrenzung voran: Losverkäufe durch Flugbegleiter oder Werbedurchsagen der Piloten sind ganz neue und unvermutete Aufgaben - und die Reihe ließe sich fortsetzen.

"Aktuell steigen wir mit unserer Untersuchung gerade von der innerdeutschen Fliegerei und den Mittelstrecken auf die Langstreckenflüge um. Im Frühjahr werden wir uns dann der Geschäftsfliegerei und dem Luft-Cargo widmen", umreißt Matuschek die nächsten Schritte der Wissenschaftler. Bis der Endbericht im Jahr 2008 vorliegt bleibt also noch genug Zeit für Interviews und Auswertungen. Die Ergebnisse werden neben den beteiligten Airlines vor allem der Berufsvereinigung Cockpit, dem Berufsverband KabineKlar e.V. und der Gewerkschaft Ufo e.V. zur Verfügung gestellt. Diese erhoffen sich durch eine fremde, objektive Untersuchung der Arbeits- und Berufsbedingungen nicht nur einen Perspektivenvergleich, sondern auch einen arbeitssoziologischen Blick auf alltägliche Arbeitspraktiken.

Das Projekt im Internet: http://www.tu-chemnitz.de/phil/soziologie/voss/start.htm

Weitere Informationen erteilt der Projektverantwortliche Dr. Ingo Matuschek, Telefon (03 71) 5 31 - 31 287, E-Mail ingo.matuschek@phil.tu-chemnitz.de

(Autorin: Nicole Leithold)

Mario Steinebach
12.12.2006

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