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"Die ganze Welt will gar nicht zu uns"

Heidrun Friese, Professorin für Interkulturelle Kommunikation, forschte zu den Bootsflüchtlingen auf Lampedusa. Sie spricht im Interview über Gastfreundschaft, Migrationsindustrie und offene Grenzen.

Frau Prof. Friese, immer mehr Flüchtlinge kommen nach Europa. Sie haben sich jahrelang mit den Bootsflüchtlingen auf der Mittelmeerinsel Lampedusa beschäftigt, Ihr neues Buch heißt "Grenzen der Gastfreundschaft". Das klingt wie: Das Boot ist voll.

Heidrun Friese: Da bin ich tatsächlich schon missverstanden worden. Mir geht es darum zu zeigen: Gastfreundschaft ist ein ethischer Imperativ, andere aufzunehmen ohne nach Herkunft, Zweck, Nutzen, Freund oder Feind zu fragen. Die Nationalstaaten haben diesem Imperativ Grenzen gesetzt. Staatsbürgerschaft schafft Grenzen. Sie legt fest, wer einer politischen Gemeinschaft angehört und wer als Fremder gilt. Grenzen der Gastfreundschaft werden aber auch durch wirtschaftliche Entwicklungen gesetzt. Leute fangen an, in Fremden eher Feinde als Freunde zu sehen. Es geht um Ressourcen, um Sozialneid - unter Vernachlässigung dessen, was man als Werte des christlich-jüdischen Abendlands bezeichnen könnte. Auch neigen wir dazu, soziale Probleme zu kulturalisieren.

Sie erleben Gastfreundschaft in unserem Land also nicht so, wie man sie vor unserem kulturellen Hintergrund erwarten müsste?


Wir fragen: Nützen uns die Menschen oder nützen sie uns nicht? Es wird zwischen Kriegsflüchtlingen und Wirtschaftsflüchtlingen unterschieden. Auch die Diskussion um den Zuzug ausländischer Fachkräfte knüpft an Nützlichkeitserwägungen an. Doch das ist nicht überall so.

Welche Gesellschaft geht anders mit Gastfreundschaft um?

Nehmen wir Lampedusa. Auf dem Eiland im Mittelmeer leben heute rund 6000 Menschen. Ursprünglich waren das Fischer. Unter diesen Seeleuten gilt ein Ethos: Wer in Gefahr ist, dem wird geholfen - im Sinne einer ganz ursprünglichen Form von Gastfreundschaft. Im Jahr 2011, nach der Revolution, kamen 150.000 Tunesier auf Lampedusa an. Können Sie sich vorstellen, was in Freital passieren würde, wenn 150.000 Tunesier vor der Tür stünden? Da gäbe es Pogrome.

Auf Lampedusa passierte nichts?

Die Lampedusani waren auch nicht glücklich über die Situation. Aber sie haben die Verantwortlichen in Italien kritisiert. Die Einheimischen haben sich mit den Tunesiern solidarisiert. Sie demonstrierten gemeinsam gegen den Staat, der nicht dafür sorgte, dass die Menschen würdig untergebracht wurden.

In Deutschland wird oft gesagt, Flüchtlinge haben eine Bringeschuld bei der Integration. Welche Spielregeln gelten bei der Gastfreundschaft für den Gast?

Es geht darum, friedliches Zusammenleben zu organisieren. Wir kennen das auch aus dem privaten Bereich. Beim gemeinsamen Essen sollten zwei Gäste nicht anfangen, sich zu streiten. Alles soll harmonisch ablaufen. Zu den Regeln gehört auch, dass jemand, der länger da bleibt, die Sprache lernt. Sonst kann er am öffentlichen Leben nicht gleichberechtigt teilhaben.

Und die Gastgeber?

Schon nach dem griechischen Ritus hat der Gastgeber die Pflicht, für die Sicherheit des Gastes zu sorgen. Früher war es auch wichtig, gegenüber einem Gast großzügig zu sein. Das verschaffte dem Haus des Gastgebers Ehre. Heute gilt das nicht mehr. In den Nationalstaaten haben wir die Kosten-Nutzen-Abwägung.

Es gibt zahlende und ungebetene Gäste, auf Urlaubsinseln im Mittelmeer treffen sie aufeinander. Wie soll man reagieren?

Ich denke, als Urlauber auf Lampedusa oder Kos muss man die Situation schon ertragen, mit den Folgen der Politik konfrontiert zu werden, die europäische Regierungen betreiben. Da werden die Widersprüche der globalisierten Welt auf den Punkt gebracht. Unsere Freizügigkeit in Europa beruht auf dem Ausschluss anderer. Im Inneren können wir frei reisen, nach außen wurden neue Grenzen gezogen. Ich finde das zutiefst ungerecht. Warum darf ich reisen, andere aber nicht?

Die Bundeskanzlerin streichelt ein palästinensisches Mädchen und sagt, wir können nicht alle aufnehmen. Ist das Boot denn nicht tatsächlich irgendwann voll?

Ich habe nicht nur auf Lampedusa geforscht, sondern auch in den Häfen in Tunesien. Ich wollte wissen, was die Leute zur Flucht in seeuntüchtigen Booten treibt. Zunächst treibt sie die Visapolitik der EU dazu. Viele der meist jungen Männer nannten als Grund für ihre Flucht: Freiheit. In Sachsen erlebe ich, dass ausgerechnet diejenigen, die in der DDR eingesperrt waren, andere aussperren wollen. Das finde ich skandalös. Im Übrigen: Die Hauptlast der Fluchtbewegungen tragen die Anrainerländer der Krisenstaaten, der Libanon hat weit mehr als eine Million Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen, bei nur vier Millionen Einwohnern. Da so zu tun, als ob Deutschland überfordert wäre, ist schon ein starkes Stück.

Aber Europa sieht seine Belastungsgrenzen erreicht und setzt immer mehr auf Abschottung.

Im Studiengang Interkulturelle Kommunikation wollen wir in einem Projekt die Kosten dieser Abwehr untersuchen. Was die EU hier für Geld ausgibt, das sind Milliarden, die man bei einer veränderten Visapolitik einsparen und für Inklusion verwenden könnte. Was allein die Auffanglager kosten: In Italien kam im Winter 2014 heraus, dass einer Mafia-Organisation in Rom alle Lager unterstanden. Einer der Organisatoren sagte in einem abgehörten Telefongespräch: Mit Einwanderern kann man mehr Geld verdienen als mit Drogen. Auf Lampedusa habe ich dasselbe erlebt: Die Lagerbetreiber bekamen pro Flüchtling 33 Euro am Tag. Eigentlich sollen die Leute nur 72 Stunden bleiben. Doch das Lager wurde voller und voller, weil die Leute nicht weitertransportiert wurden. Wenn Sie dieses Geschäft betreiben: Haben Sie dann ein Interesse daran, dass die Leute schnell rauskommen? Natürlich nicht. Ich nenne das Migrationsindustrie.

Aber es gibt doch auch uneigennützige Helfer.

Sicher, die gibt es. Aber es gibt auch massive ökonomische Interessen, dass alles bleibt wie es ist. Selbst unter Nichtregierungsorganisationen.

Wo sehen Sie Lösungen?

Die EU muss ihre Visapolitik lockern. Viele würden kommen, schauen und auch wieder gehen. Die ganze Welt will gar nicht zu uns. Man müsste für offene Grenzen plädieren, so paradox das klingt. Auch die Dublin-Verordnungen müssen abgeschafft werden. Als Flüchtling kann ich heute in vielen Ländern Europas quasi nicht mehr legal Asyl beantragen. Die Probleme werden an die Peripherie, nach Italien, Griechenland, Spanien verdrängt. Und wir brauchen eine wirkliche Migrationspolitik. Mein bester tunesischer Fischerfreund wollte als Jugendlicher in Sizilien ein paar westliche Jeans kaufen. Er landete - damals noch visafrei - als Schreiner auf der Insel Pantelleria, als Bootsbauer in Florenz. 20 Jahre später ist er nach Tunesien zurückgekehrt, hat geheiratet, ein Fischerboot gekauft. Er lebt jetzt als erfolgreicher Remigrant in seinem Heimatdorf. Das zu unterstützen, ist die beste Art von Entwicklungshilfe.

(Das Gespräch führte Oliver Hach, Redakteur der Freien Presse, die der Veröffentlichung auf "Uni aktuell" zugestimmt hat.)

Homepage der Professur für Interkulturelle Kommunikation: https://www.tu-chemnitz.de/phil/ifgk/ikk

Informationen des Verlages zum Buch "Grenzen der Gastfreundschaft": http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2447-2/grenzen-der-gastfreundschaft?c=784

Mario Steinebach
03.09.2015

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