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Aktuelle Einschätzung zur US-Wahl (aktualisiert)

Prof. Dr. Kai Oppermann ist Experte für internationale Politik an der TU Chemnitz, Chelsea Burris ist TU-Studentin und US-Amerikanerin - Im Interview ordnen sie nach dem Wahlsieg Joe Bidens die aktuellen Vorgänge wissenschaftlich und persönlich ein

Aktualisierte und ergänzte Meldung (Stand: 9.11.2020, 15 Uhr).

Prof. Dr. Kai Oppermann, Inhaber der Professur Internationale Politik der Technischen Universität Chemnitz, und Chelsea Burris, Studentin an der TU Chemnitz, US-Amerikanerin und Demokratin, sprachen im Vorfeld im Wissenschafts-Podcast "TUCscicast" über die Lage in den USA. Was denken sie nun über die Situation, nachdem der demokratische Kandidat Joe Biden zum Sieger erklärt wurde? Im Interview ordnet  Prof. Dr. Kai Oppermann die aktuellen Entwicklungen wissenschaftlich ein und gibt einen ersten Ausblick auf mögliche außenpolitische Schwerpunkte Bidens. Chelsea Burris berichtet aus ihrer persönlichen Perspektive und gibt einen Einblick aus Sicht einer US-Amerikanerin.

Herr Professor Oppermann, seit vergangenen Samstag ist klar, dass der demokratische Bewerber Joe Biden die US-Wahl 2020 gewonnen hat. Was bedeutet Bidens Sieg für Sie persönlich?

Ich bin vor allem erleichtert, dass es im Großen und Ganzen bislang nicht zu den gewaltsamen Auseinandersetzungen gekommen ist, die viele im Falle einer relativ knappen Wahlniederlage Trumps befürchtet hatten. Ansonsten versuche ich, bei der Bewertung der Wahl meine persönliche politische Meinung außen vor zu lassen.

Donald Trump weigert sich, die Wahl Bidens anzuerkennen. Die Süddeutsche Zeitung mutmaßte, es könnte eine Strategie dahinter stehen, das Wahlleute-Gremium zu verhindern und so eine Wahlentscheidung im Repräsentantenhaus oder final vor dem Supreme Court zu erzwingen. Für wie realistisch halten Sie dieses Szenario? 

Ob es eine solche Strategie gibt, vermag ich nicht zu beurteilen. Falls ja, denke ich nicht, dass sie erfolgreich sein kann. Der Druck auf Donald Trump, auch aus den eigenen Reihen, sich dem Wahlergebnis zu fügen, nimmt stetig zu. Die Reihen seiner loyalen Unterstützer lichten sich. Die normative Kraft des Faktischen wird immer stärker. Trump will sich seinen Anhängern vermutlich ein vorerst letztes Mal als aufrechter Kämpfer gegen das Establishment präsentieren und weiter an dem öffentlichen Bild malen, das er von sich präsentieren möchte. Wenn alle rechtlichen Schritte ausgeschöpft und erfolglos geblieben sind - und davon ist auszugehen -, wird Trump am 20. Januar 2021 aus dem Amt ausscheiden.

Es ist zum aktuellen Zeitpunkt und auf Basis der bisherigen Kommunikation des Präsidenten und seines Teams davon auszugehen, dass Trump keine geordnete Machtübergabe gewährleisten wird. Wie sollte die internationale Gemeinschaft mit dieser Situation umgehen?

Die äußeren Einflussmöglichkeiten sind begrenzt. Dennoch ist es wichtig, nun da die Stimmen der Wählerinnen und Wähler ausgezählt sind, dass möglichst viele Regierungen Joe Biden öffentlich zu seinem Wahlsieg gratulieren. Die Bundesregierung hat das, ebenso wie zahlreiche andere Regierungen, bereits getan. Damit zeigt die internationale Gemeinschaft, dass die Wahl für sie rechtmäßig verlaufen und entschieden ist. Das erhöht den Druck auf Donald Trump zusätzlich, das Unvermeidliche ebenfalls anzuerkennen.

Wenn Joe Biden am 20. Januar 2021 seine Amtszeit antritt: Welche Schwerpunkte wird er international setzen?

Wir wissen, dass Joe Biden eine andere Sicht auf die internationale Politik hat, als Donald Trump. Während Trump eine unilaterale "America First"-Politik verfolgt hat, steht Biden für Multilateralismus und die liberale Weltordnung. Da der amerikanische Präsident in der Außenpolitik zudem mehr Entscheidungsspielräume hat als in der Innenpolitik, ist von Präsident Biden somit durchaus eine Richtungsänderung in der amerikanischen Außenpolitik zu erwarten. Dies drückt sich zum Beispiel darin aus, dass Biden dem Pariser Klimaschutzabkommen beitreten und den amerikanischen Rückzug aus der Weltgesundheitsorganisation rückgängig machen wird. In anderen Bereichen ist hingegen eher Kontinuität zu erwarten. Zwar steht Biden dem freien Welthandel grundsätzlich positiver gegenüber als Trump, auch er beklagt aber beispielsweise unfaire Handelspraktiken Chinas und steht neuen Freihandelsabkommen kritisch gegenüber. Mit Blick auf die NATO wird auch Biden von den europäischen Partnern und vor allem von Deutschland höhere Verteidigungsausgaben einfordern - genauso wie das vor Trump bereits Obama getan hat.

Wie blickt er Ihrer Ansicht nach außenpolitisch auf Europa und Deutschland?

Im Gegensatz zu Trump sieht Biden in Europa nicht zuerst einen Rivalen, sondern einen diplomatischen und sicherheitspolitischen Partner. Anders als Trump steht Biden der europäischen Integration positiv gegenüber und sieht
den britischen Austritt aus der EU skeptisch. Damit reiht er sich in den außenpolitischen Grundkonsens ein, den vor Trump republikanische und demokratische US-Präsidenten geteilt haben. Damit wird die USA auch für Deutschland wieder ein berechenbarer Partner. Das bedeutet aber nicht, dass es keine Konflikte im transatlantischen Verhältnis mehr geben wird. In der NATO wird Biden von Deutschland zum Beispiel nicht weniger erwarten als Trump. In Zukunft wird man Meinungsverschiedenheiten jedoch wieder geräuscharmer und produktiver diskutieren können.

Eine letzte Frage: Die vergangenen vier Jahre unter Donald Trump haben mit Blick auf die EU die Notwendigkeit gezeigt, außen- und sicherheitspolitisch eigenständiger aufzutreten. Wie wird sich die EU unter einem Präsident Biden in diesen Bereichen entwickeln? 

Um ehrlich zu sein: Hier habe ich wenig Hoffnung auf bedeutsame Fortschritte. Nach dem Brexit hat sich das sicherheitspolitische Potential der EU weiter verringert. Deutschland steht einer europäischen Führungsrolle
in diesem Feld nach wie vor skeptisch gegenüber. In der EU-27 gibt es sehr unterschiedliche Sichtweisen auf die internationale Rolle Europas. Schon in den 1970er Jahren hat der damalige US Außenminister Henry Kissinger beklagt,
dass Europa außen- und sicherheitspolitisch nicht mit einer Stimme spreche. Das wird sich vermutlich auch während der Amtszeit Joe Bidens nicht grundsätzlich ändern.

Frau Burris, Sie sind TU-Studentin, US-Amerikanerin und Demokratin – wie haben Sie die letzten Tage der US-Wahl erlebt?

Die letzten Tage der US-Wahl waren sehr spannend und stressig. Es war schon am Donnerstag klar, dass Biden gewinnen wird, aber die Wartezeit, bis die Fernsehsender das bestätigt haben, war extrem lang. Ich gehöre zu den „Democrats Abroad Saxony“ und unsere WhatsApp-Gruppe war sehr aktiv in letzter Zeit. Überhaupt habe ich nicht so viel geschlafen und ich konnte mich leider nicht so gut auf meine anderen Verpflichtungen konzentrieren. Ich habe quasi nur die Nachrichten aktualisiert.

Wie haben Sie die Nachricht erlebt, als der Sieg des demokratischen Bewerbers Joe Biden verkündet wurde?

Ich war in dem Moment schon im Telefonat mit meiner Schwester. Mein Onkel hat die Nachricht in den Familien-Chat geschickt und meine Schwester und ich haben sofort aufgelegt, um unsere Eltern per FaceTime zu informieren und zusammen zu feiern.

Was bedeutet der Sieg Bidens für Sie persönlich?

Ich kann endlich aufatmen. Ich habe das Gefühl, dass die letzten vier Jahre ein Alptraum waren, und jetzt sind die USA endlich wieder aufgewacht. Als Frau ist der Sieg von Harris für mich fast wichtiger als der Sieg Bidens. Ich freue mich so sehr, endlich eine Frau im zweithöchsten Amt des Landes zu sehen.

In den USA gibt es weiterhin politische Spannungen. Donald Trump weigert sich, das Ergebnis anzuerkennen und eine geordnete Machtübergabe erscheint aktuell als wenig realistisch. Was bekommen Sie von der Stimmung im Land mit?

Die Republikaner, die ich persönlich kenne, sind aktuell sehr leise geworden. Die große Mehrheit meiner Bekannten sind Demokraten, unter ihnen ist die Stimmung extrem gut. Auch die, die Biden zu konservativ finden, feiern die Abwahl Trumps.

Joe Biden hat in einer ersten Rede nach Verkündung des Wahlsieges betont, er wolle das Land einen und die Spaltung überwinden. Wie realistisch sehen Sie seine Chancen, das Land wieder mehr zusammenzubringen?

Ich finde das nicht besonders realistisch, aber ich denke auch, dass er bessere Chancen als die meisten Politiker hat. Aus meiner Sicht gibt es leider zu viel „Fake News“ und viele Menschen sind so davon beeinflusst und wollen Biden keine echte Chance geben. Die Spaltung zu überwinden ist auch wegen des Zwei-Parteien-Systems extrem schwierig.

Was müsste Ihrer Ansicht nach passieren, damit es weniger Spannungen in der Gesellschaft gibt?

Mit der Zeit wird es hoffentlich besser, weil die Menschen, die gerade Angst vor der Präsidentschaft Bidens haben, sehen werden, dass sie sich unter Biden keine Sorgen machen müssen. Außerhalb der Präsidentschaft müssen Unternehmen wie Facebook und Twitter besser reguliert werden, um „Fake News“ zu bekämpfen. Schließlich müssen Leute wie ich, die republikanische Verwandte haben, mit ihren Familien und Freunden ins Gespräch kommen. Biden kann das nicht alleine schaffen.

Was wünschen Sie sich für die Präsidentschaft Bidens?

Ich hoffe, dass er auch ein Präsident für progressive Demokraten sein wird. Ich will natürlich das Ende der Corona-Krise sehen, aber ich möchte auch weitere konkrete Schritte sehen. Sowohl, was die Rechte von schwarzen US-Amerikanern betrifft, die es zu schützen und auszuweiten gilt, als auch den Kampf gegen die Klimakrise.

+++

Vorangegangene Uni-aktuell-Meldung vom 5.11.2020:

Zur Stunde ist das Rennen um die Präsidentschaft in den USA noch in vollem Gange, wobei sich eine Tendenz für den demokratischen Kandidaten Joe Biden abzeichnet. Prof. Dr. Kai Oppermann, Inhaber der Professur Internationale Politik der Technischen Universität Chemnitz, hat bereits im Vorfeld im Wissenschafts-Podcast "TUCscicast" eine Einschätzung zur aktuellen Lage in den USA abgegeben. Im Interview analysiert er die aktuellen Entwicklungen.

Herr Professor Oppermann, wie haben Sie die letzten beiden Wahlnächte verbracht?

Die erste Nacht habe ich noch geschlafen und mir nur den Wecker etwas früher gestellt. Ich hatte den Umfragen vertraut und einen vergleichsweise deutlichen Wahlsieg von Joe Biden erwartet. In der zweiten Nacht saß ich dann lange vor dem Computer.

Der demokratische Kandidat Joe Biden steht nach aktuellem Stand kurz davor, das Rennen zu gewinnen. Zeitweilig sah es aber gar nicht danach aus. Wie kommt es zu diesem Comeback?

Das hat mit den Briefwahlstimmen zu tun. Die wurden bereits vor dem Wahltag abgegeben, werden aber erst nach den persönlich im Wahllokal abgegebenen Stimmen ausgezählt. In einigen Staaten durfte erst am Wahltag damit begonnen
werden. Angesichts der Rekordzahlen von Briefwählern, dauert die Auszählung noch an. Da wir wissen, dass demokratische Wähler weitaus häufiger per Briefwahl abgestimmt haben als republikanische Wähler, holt Joe Biden auf,
je mehr Stimmen ausgezählt werden. Diesen "blue shift" hatten alle erwartet – weshalb das Trump-Lager schon lange versucht, Zweifel daran zu säen, dass die Briefwahl fair abläuft. Hinweise auf Manipulationen oder erhebliche
Unregelmäßigkeiten gibt es allerdings nicht.

Das Team um Donald Trump hat bereits juristische Maßnahmen gegen die Auszählung angekündigt. Wie wahrscheinlich ist es, dass es dazu kommt?

Dass Donald Trump juristische Maßnahmen ergreift ist sicher. Damit hat er beispielsweise in Georgia, Michigan und Pennsylvania bereits begonnen, wo er die Rechtmäßigkeit unterschiedlicher Aspekte der Auszählungen überprüfen
lassen will. Es gilt allerdings allgemein als unwahrscheinlich, dass er mit den Klagen Erfolg hat, nicht zuletzt weil Gerichte im Vorfeld der Wahl bereits Einwände gegen die Briefwahl zurückgewiesen haben. Im Moment gehen die Auszählungen auf jeden Fall weiter und damit werden bereits Fakten geschaffen.

Donald Trump hat den demokratischen Prozess wiederholt angegriffen. Ist es üblich, die Auszählung der Stimmen im laufenden Verfahren zu bemängeln oder gar juristisch stoppen bzw. anfechten zu wollen?

Zwar kam es auch in der Vergangenheit zu juristischen Auseinandersetzungen über das Wahlergebnis, beispielsweise in der Wahl zwischen Al Gore und George W. Bush im Jahr 2000. Allerdings ist es in meiner Erinnerung ohne Beispiel, wie Trump als amtierender Präsident ohne erkenntliche Belege Manipulationen und Unrechtmäßigkeiten behauptet und damit die Legitimität des Wahlprozesses zu untergraben versucht. Damit beschädigt er die US-amerikanische Demokratie und trägt erheblich zur aktuell sehr explosiven Stimmung in den USA bei.

Eine ähnliche Situation gab es bereits im Jahr 2000 als Al Gore und George W. Bush gegeneinander antraten. Damals hatte Gore absolut gesehen mehr Stimmen, der Sieg wurde aber Bush zugesprochen. Sind die Situationen tatsächlich vergleichbar?

Nein. Damals ging es um die Frage, ob eine von Al Gore beantragte Neuauszählung zulässig sei, was damals vom Supreme Court zurückgewiesen wurde. Heute versucht der Präsident die Auszählung noch nicht gezählter Stimmen zu verhindern. Und das nicht nur in einem Staat, sondern gleich in mehreren. Daher sind die Konstellationen nicht vergleichbar.

Auf deutscher Seite wird politisch im Moment wenig dazu kommuniziert. Slowenien beispielsweise hat Trump bereits gratuliert. Wie sollte sich die EU und vor allem die deutsche Politik in dieser Lage verhalten?

Es gebietet sich für die deutsche Politik und für die EU abzuwarten, bis offiziell ein Wahlsieger erklärt wird. Bis dahin sollte man sich mit jedweden Äußerungen zurückhalten. Auf keinen Fall sollte man frühzeitig irgendeinem Kandidaten zum Sieg gratulieren. Schließlich werden Deutschland und die EU am Ende mit dem Präsidenten arbeiten müssen, der am 20. Januar das Amt übernimmt. Einmischungen in die innenpolitischen Angelegenheiten der USA kommen dort nicht gut an.

Sofern es zum Rechtsstreit um die Ergebnisse kommt: Welche Auswirkungen hätte ein Stillstand auf die aktuelle politische Zusammenarbeit?

Ich glaube nicht, dass dies unmittelbar erhebliche Auswirkungen auf die politische Zusammenarbeit hat. Auf Arbeitsebene geht diese Zusammenarbeit weiter, ansonsten wartet man ohnehin ab, bis die neue Administration, ob republikanisch oder demokratisch, die Amtsgeschäfte übernimmt. Es bleibt zu hoffen, dass die Auseinandersetzungen in den USA friedlich, demokratisch und rechtstaatlich verlaufen.

Matthias Fejes
09.11.2020

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