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Professur Politische Theorie und Ideengeschichte
Politische Theorie und Ideengeschichte

Eine Intellectual History der Bundesrepublik: Multiple Zugänge

Eine Intellectual History der Bundesrepublik Deutschland ist noch immer ein Forschungsdesiderat. Obwohl in der jüngst revitalisierten politischen Ideengeschichte kleinteiligere Studien verfasst wurden, steht nicht nur eine Gesamtschau aus, die Forschungsstränge bündeln, kanalisieren und Deutungsschneisen hindurch schlagen kann. Auch jenseits eines solchen Mammutprojektes finden sich beachtliche Forschungslücken. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass das Konzept der Intellectual History noch immer wenig Beachtung erfährt. Unter Intellectual History versteht man eine Geschichte von Denkern, Konzepten und Ideen, die nicht als abgeschlossene Einheiten begriffen, sondern in einen kulturellen, politischen, sozialen und lebensweltlichen Kontext eingebettet werden. Ihr Gegenstand sind nicht nur Produkte intellektuellen Wissens im engeren Sinne, sondern auch die Bedingungen, wie dieses Wissen generiert und verändert wurde. Um Transfer- und Austauschprozesse intellektuellen Wissens zu erfassen, kommt den Intellektuellen als Sozialfigur eine große Bedeutung zu: Als Agenten und an den Schnittstellen von kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Transitionsprozessen zwischen den Orten der Wissensproduktion bzw. zwischen Wissensproduktion und der öffentlichen Verständigung sind sie gleichsam Seismographen für soziale Veränderungen. Die biografische Intellektuellenforschung überbrückt dabei vor allem sozial- wie begriffsgeschichtliche, struktur- und politikhistorische Ansätze. Das Interesse an den literarischen, kulturellen, sozialen und politischen Denk- wie Rollenmustern, ihren Produzenten, Streitern und Diskursen sowie ihren Kommunikations- oder generationellen Netzen unterscheidet die Intellectual History von ähnlichen bzw. älteren Zugängen einer Wissensgeschichte, die sich ausschließlich auf die Produzenten und die Produkte intellektuellen Wissens konzentrieren (Disziplingeschichte, Wissenschaftsgeschichte) oder intellektuelle Prozesse selbst noch einmal in ein eigenes theoretisches Konzept (Geistesgeschichte, Begriffsgeschichte, Geschichte der Ideen) überführen.

Unser Projekt verfolgt zwei grundsätzliche Ziele: Zunächst wollen wir Beiträge zu einer Intellectual History der Bundesrepublik Deutschland verfassen, wobei das Forschungsprojekt zu diesem Zeitpunkt nur einzelne Forschungslinien verfolgen kann, um den Wert des skizzierten analytischen Rasters selbst zu testen. Es werden bestehende Forschungslücken geschlossen, wobei intellektuelle Einzel- oder Gruppenbiografien im Zentrum stehen. Von Interesse ist, inwieweit Intellektuelle als Akteure, die sich über ihre eigene Profession hinaus mit Politik, Staat und Gesellschaft beschäftigen, verschiedene Rollenbilder ausfüllen. Hierbei steht die Frage nach dem Verhältnis von intellektueller Produktivität und politisch-sozialer Umwelt im Mittelpunkt: Da die Systemvoraussetzungen intellektuellen Wirkens bzw. das Denken der Systembrüche eine zentrale Frage einer jeden Intellectual History ist, fragen wir nach Übergängen und Zäsuren intellektuellen Schaffens. Sind intellektuelle Konversionen lediglich Ausdruck sozialer und politischer Veränderungen oder bewahren intellektuelle Formationen auch ein gewisses Maß an Selbstständigkeit gegenüber politischen und sozialen Entwicklungen im 20. Jahrhundert, die gerade in Deutschland äußerst wechselvoll waren? Respektive wie wurden politische Brüche und soziale Veränderungen intellektuell verarbeitet? Und schließlich: Inwieweit haben intellektuelle Kontroversen zu einer Veränderung der politisch-kulturellen Landschaft selbst beigetragen? Dabei gilt es zu beachten, dass Intellektuelle – nicht erst seit der erzwungenen Emigration nach 1933 – internationale Akteure sind: Was trieb sie als „Grenzgänger“, „Mittler“, Agenten der „Akkulturation“ oder „cultural broker“ zwischen den Nationen und Kulturen an? Konkret betrifft dies die Transformationen des liberalen und konservativen Denkens in der Bundesrepublik, welche durch neue biographische Studien erschlossen werden sollen.

Zudem erörtern wir das theoretische Konzept der Intellectual History selbst und diskutieren alternative Zugänge für eine Geschichte intellektuellen Wissens, um nach den Grenzen des Ansatzes zu fragen. Kontrastfolie ist eine wissenschaftsgeschichtliche Perspektive, die an der Spezifik akademischer Diskurse, wissenschaftlicher Probleme sowie auf den permanenten Rekurs auf Methoden, Theorien und Erkenntnisse festhält. Dies werden wir am Beispiel der politikwissenschaftlichen Disziplingeschichte untersuchen: Während gerade die bisherige Disziplingeschichtsschreibung die politischen Einflussfaktoren für Genese und Transformation der Politikwissenschaft in Deutschland hervorgehoben hat und bis heute politische Streitfragen die historische Selbstverständigung des Faches beleben (oder auch belasten), wollen wir nach spezifisch wissenschaftsgeschichtlichen Epochenschwellen und damit auch über die institutionalisierten Disziplinschranken des Faches hinweg fragen. Dabei werben wir für eine problemgeschichtliche Öffnung der Intellectual History: Was ist Gegenstand einer Wissenschaft von der Politik, auf welche methodischen und theoretischen Konzepte zur Klärung zentraler Begriffe wurde zurückgegriffen und wie grenzt sie sich von Nachbarwissenschaften ab? Dabei reicht die Frage nach der „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ (Lutz Raphael) bis ins 19. Jahrhundert zurück und wird maßgeblich durch Debatten im Fin de Siècle stimuliert. Einen Einschnitt, wenn nicht gar das Ende der Hoffnungen, die auf eine „Verwissenschaftlichung des Sozialen“ gerichtet waren, so unsere Hypothese, zeichnete sich mit dem „Ende der Eindeutigkeit“ (Zygmunt Bauman) angesichts des gerade im Holocaust zum Albtraum geronnenen Traums in die ordnende Kraft des „Gesetzgebers“ ab. Mit dieser Hypothese deutet sich auch eine gewisse Konvergenz von disziplingeschichtlicher und kontextualisierender Perspektive an.