Katalonien virtuell zu Gast in Chemnitz
Der 27. Katalanistentag des Deutschen Katalanistenverbandes fand 2020 im digitalen Format statt
Unter dem Titel „Cultura en transició – Kultur im Wandel“ richtete die Professur Kultureller und Sozialer Wandel der Technischen Universität Chemnitz vom 16. bis 19. September 2020 den 27. Katalanistentag aus. Geplant war der im Zweijahrestakt stattfindende Kongress des Deutschen Katalanistenverbandes (DKV) als Präsenzveranstaltung an der TU Chemnitz, aufgrund der Corona-Pandemie wurde die Veranstaltung ins digitale Format übertragen.
Die Tagung lud dazu ein, die neuesten kulturwissenschaftlichen Ansätze für die Analyse kulturellen und sozialen Wandels in Katalonien anzuwenden. Kulturen befinden sich im stetigen Wandel – und dies ist in der katalanischsprachigen Welt unübersehbar. Dabei sind die Unabhängigkeitsbestrebungen nur ein Aspekt der gegenwärtigen Veränderungen in der katalanischen Gesellschaft. Die Demokratisierung Spaniens ab 1975, die unter der Losung des Konsenses eingeleitet wurde, erreichte mit der Verfassung von 1978 einen wichtigen Höhepunkt. In Katalonien sorgte dies für eine explosionsartige kulturelle Entfaltung, die durch das Autonomiestatut von 1979 auch sprach- und kulturpolitische Züge erhielt. Von der Schulbildung bis hin zum vielfältigen Literaturmarkt, Kino, Fernsehen, Theater, Pressewesen und zur Kulturpolitik nahm die kulturelle Produktion auf Katalanisch in den vergangenen vierzig Jahren exponentiell zu.
In solchen kulturellen Objektivationen lassen sich gesellschaftliche Veränderungen und der Umgang mit ihnen ablesen. Zu den Aspekten gesellschaftlichen Wandels, die derzeit in kulturellen Produktionen ihren Niederschlag finden, zählen u. a. Aushandlungen einer katalanischen Kollektiv-Identität im Kontext politischer Dezentralisierung und zunehmender Europäisierung Spaniens; die Gestaltung einer gender-, herkunfts- und sozial inklusiven Gesellschaft; die Rolle von Zuwanderung in der Schaffung einer postmodernen, europäischen und weltoffenen Gesellschaft; das Ende der Konsenspolitik der Transition und grundlegende Fragen wie nach dem Verhältnis zwischen Katalonien und Spanien sowie von Monarchie und Republik. All diese Aspekte wurden im 27. Deutschen Katalanistentag in fundierten Analysen thematisiert.
Den Anstoß der Reflexion gab der Keynote-Vortrag von Prof. Dr. Josep-Anton Fernández (Universitat Oberta de Catalunya), der über Kulturkonzeptionen in Katalonien im Spannungsbogen zwischen homogen-monolitischen und kosmopolitsch-universellen Vorstellungen reflektierte. Im Anschluss daran wurden in zehn thematischen Sektionen mit insgesamt 42 internationalen Einzelbeiträgen verschiedene Aspekte des Wandels unter die Lupe genommen. Einen zentralen Raum nahmen theoretische Verortungen der Katalanistik innerhalb der Kulturwissenschaften und der Iberischen Studien ein. Es wurde deutlich, dass aktuelle Phänomene – nicht nur, aber auch in Katalonien – durch Heranziehen einer kulturwissenschaftlichen Perspektive besser verstanden werden – eine Perspektive, die uns hilft zu verstehen, inwieweit soziale und politische Phänomene durch Diskurse konstruiert werden. So widmeten sich mehrere Sektionen der medialen Konstruktion der so genannten Unabhängigkeitsfrage in Katalonien, der Möglichkeiten und Grenzen der Digitalisierung, der Gender-Konstruktionen oder der transkulturellen Erinnerungen. Interdisziplinarität wurde beim Katalanistentag groß geschrieben, denn auch politik-, theater-, literatur- und sprachwissenschaftliche Sektionen gingen einen fruchtbaren Dialog mit den kulturwissenschaftlich orientierten katalanischen Studien ein.
Der Wechsel ins digitale Format brachte gleichermaßen Einschränkungen und Erweiterungen mit sich. Die Erfahrung des Universitätsstandortes Chemnitz, der Austausch bei spontanen Gesprächen am Mittagstisch, die Ideen zu neuen Projekten, die bei einem Kaffee oder einem Spaziergang herauskommen – diese Aspekte lassen sich kaum in der digitalen Welt ersetzen. Doch mit dem Einsatz unterschiedlicher Medien wurde dem Verlust der Präsenzveranstaltung entgegengewirkt. Zunächst brachte ein Begrüßungsvideo des Ausrichterteams über die Stadt Chemnitz und Technische Universität diese der katalanischsprachigen Welt näher. Die Verwendung von interaktiven Plattformen führte dazu, dass der wichtige wissenschaftliche Austausch mit Gewinn stattfinden konnte. So fand in den Konferenz-Chaträumen eine äußerst aktive und breite Beteiligung der Teilnehmenden statt. Fragen, Kommentare, Hinweise und viele wertschätzende Äußerungen stellten vor allem für junge Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler eine große Bereicherung dar.
Auch auf ein Kulturprogramm verzichtet die Tagung nicht: Die Gedichte der katalanischen Dichterin Sònia Moll und die musikalischen Beiträge von dem katalanischen Musiker Carles Serras (SR.MIT) rundeten das Gesamtkonzept der Konferenz ab. Ein klarer Vorteil des digitalen Formats war die Internationalisierung des Katalanistentages, der über 150 Anmeldungen aus der ganzen Welt erhielt. Am Ende der vier intensiven und fruchtbaren Tage waren sich alle Teilnehmenden einig, dass der persönliche Austausch in der Wissenschaft zwar unabdingbar ist, die Digitalisierung aber gegenwärtig einen besonderen Beitrag zur Aufrechterhaltung des akademischen Dialogs leistet. Der Präsident des Deutschen Katalanistenverbandes, Professor Carsten Sinner (Universität Leipzig) bilanzierte: „Die Katalanistik hat gezeigt, dass sie dem Motto der Tagung treu blieb und sich als ein innovatives und dynamisches Fach versteht, das auf die gesellschaftlichen Veränderungen flexibel und konstruktiv reagiert.“